Eine Rezension von Irene Knoll
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Hans Mayer: Erinnerungen an Willy Brandt
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2001, 74 S.

Im Jahre 1964 sind sie sich zum erstenmal begegnet, Hans Mayer und Willy Brandt. Das war bei einer Zusammenkunft von Schriftstellern und namhaften Sozialdemokraten, die Günter Grass zu sich eingeladen hatte. Uwe Johnson, Ingeborg Bachmann, Walter Jens, der Verleger Klaus Wagenbach waren dabei und unter den Sozialdemokraten unter anderen Fritz Erler, Herbert Wehner, Karl Schiller und Egon Bahr. Mayer resümiert in seinem Buch über Willy Brandt, das Jahr 64 habe das Ende der Adenauer-Ära eingeleitet, und verfolgt im weiteren Text die Ideen, Strategien und Wirkungen, die dieser Austausch hatte. Sogar unmittelbar für ihn selbst, denn Brandt verwendete sich für eine Berufung Mayers, der gerade die DDR verlassen hatte, nach Hannover. Aber wechselseitige Beziehungen zueinander und aufeinander habe es schon früher gegeben, Interesse für das Wirken und Sein des je anderen. Aus dieser subtilen Zugewandtheit kristallisiert Mayer ein lebensbestimmendes Element ihrer beider Existenz, das Dissidententum. Beide seien Außenseiter, beide Andersdenkende. Dieses Thema bestimmt seine Erinnerungen an Willy Brandt, und er nimmt es durch die Stationen von Brandts Lebenslauf in Variationen immer wieder auf.

Als Zweiundneunzigjähriger, also vor zwei Jahren, hat sich Mayer darangemacht, seine Erinnerungen an Brandt festzuhalten. Beim Lesen hört man ihn sprechen, der Duktus seiner äußerst konzentrierten Rede ist gegenwärtig. Seine Rede ist drängend, überschaubare Hauptsätze. Er hat Wichtiges zu sagen, selten nur finden sich Schnörkel und Euphemismen, immer argumentieren die von ihm genannten Sachverhalte. „Es hat einem Buch noch nie geschadet, daß es die Form einer Flaschenpost annahm, also einer geistigen Leistung, die völlig auf sich gestellt ist, die alle Brücken zu ihrem Verfasser abbrach und der Psychologie nur spärlich und unwillig Eintritt gewährt“, schrieb er im Vorwort zu Büchner und seine Zeit, das noch vor dem Krieg entstand, aber erst nach Kriegsende erscheinen konnte. Und doch war dieser kritische, analytische Rationalist vom Geiste der Aufklärer in einem Maße bereit zur Bewunderung aller kreativen, aufs Humane zielenden Leistung, wie man sie keinem zweiten nachsagen kann, schon gar nicht in Deutschland. Büchner, die Brüder Mann, Goethe, an ihnen allen hat Mayer dank seiner Gabe zur respektvollen Einfühlung in ihre Lebens- und Zeitumstände verborgene Aspekte und Motive ihrer Werke entdeckt. Und in ihnen die Seelen- und Geistesverwandten, die Außenseiter, Dissidenten.

So gab es nur wenige tatsächliche Begegnungen mit Brandt, aber Mayer sucht und findet die Spuren ihrer geistigen Nähe schon in beider Jugend, in ihrem politischen Engagement in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Er findet sie in der Konsequenz ihres politischen Dissidententums: Beide verließen Nazideutschland. Er findet sie im Moment des Fremdseins in Deutschland nach ihrer Rückkehr. Auch in der Diskriminierung der Persönlichkeit. In Willy Brandts autobiographischem Buch, das Mayer für die „Neue Gesellschaft“ rezensiert hat, nimmt er Reflexe der von ihm selbst formulierten Wahrnehmungen von Entfremdung und „Verstummen als äußerstem (-r) Ausdruck der Innenwelt“ wahr. Er begründet, und gewiß nicht aus Eitelkeit, daß Brandt ihn mit aller Bewußtheit zitierte, wie er Gleiches empfand. Und beide knüpften mit diesem Wort an Shakespeares Hamlet an.

Insofern ist dieses Büchlein auch eines über Hans Mayer, über seine Gabe, sich die Persönlichkeit eines anderen anzuverwandeln.

Ansonsten spricht Mayer aus der Position des Zeitgenossen, der in die politisch-gesellschaftlichen Ereignisse integriert war, sowohl objektiv wie mit teilnehmendem Interesse. Er erfüllt durchaus die Erwartungen, die man an eine biographische Arbeit stellen möchte (und lüftet sogar das Geheimnis, wer der Vater des unehelich geborenen Willy Brandt war), und ihm genügen vierundsiebzig Seiten, um prägnante Züge sowohl der Persönlichkeit Brandts als auch der mit seiner Funktion als Außenminister und Bundeskanzler verbundenen Veränderungen parteipolitischer Strategien darzulegen. Mayer betont nachdrücklich die aus dem Verständnis und der Haltung des demokratischen Sozialisten Brandt resultierende Urheberschaft einer Öffnung der Politik der Bundesrepublik nach Osten. Mit einer Dringlichkeit, die womöglich dem Bewußtsein geschuldet ist, einer der letzten Zeitzeugen zu sein, hinterfragt und analysiert er das Zusammenspiel von durchaus auseinanderstrebenden, ja gegensätzlichen Interessensphären auf nationaler wie internationaler Ebene in Beziehung mit der Guillaume-Affäre, die zu Brandts Rücktritt Anlaß war. „Was wäre, wenn Willy Brandt nach Entdeckung der Affäre Guillaume nicht zurückgetreten wäre?“ und „Warum also gab der erfahrene Parlamentarier Herbert Wehner den Rat zur Demission?“ sind Fragen, die durch Mayers Verweise auf ein widerwärtiges Intrigenspiel wie auf die noch immer undurchsichtige Rolle Herbert Wehners während seiner Zeit in Moskau, aber auch später hindeuten. Mayer kommt für die Aufhellung dieser Zusammenhänge der lebenslange Austausch mit einflußreichen Persönlichkeiten aller Sphären des gesellschaftlichen Lebens zugute, dazu sein phänomenales Gedächtnis, das ihn befähigt, Situationen, Begegnungen, Gespräche, Eindrücke und Vermutungen aufzurufen und ihnen ihre Bedeutung für diesen noch immer verdunkelten Sachverhalt abzugewinnen. Gerade das macht Mayers Sicht auf die Dinge so anregend und unverzichtbar. Achtzehn Seiten seines Büchleins nimmt die für ihn so wichtige Frage ein. Und sie gibt dem Leser weitere Fragen an die Hand, wie etwa die, wer an der Beendigung des Kalten Krieges zwischen den USA und der Sowjetunion nicht interessiert sein konnte, wer eine Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten unter einem Regierungsoberhaupt Brandt unbedingt zu vermeiden trachtete. Vielleicht, kann man einwenden, verläßt Mayer aus großer Sympathie für Brandt die Objektivität der Betrachtung, vielleicht hat dieser scharfsinnige, von den ideologischen und politischen Kämpfen dieses Jahrhunderts unmittelbar persönlich betroffene und in kontinuierlicher kritischer Auseinandersetzung damit lebende Mann hier ein letztes Mal bewiesen, wie die Methode historisch-materialistischen Denkens die Gründe historischer Konstellationen aufzudecken vermag. Diese letzten Kapitel sind so spannend wie aufregend. Mayer holt die mehr oder weniger selbsternannten Helden der deutschen Wiedervereinigung von ihren hohen Rängen. Er weiß, daß Geschichte nicht gerecht ist, und er sagt es, indem er die Situation Brandts mit der Hamlets vergleicht, der, wie jener, „durch die Umstände daran gehindert (wurde), sich nach Kräften zu entfalten“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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