Eine Rezension von Bernd Heimberger

Lesen lernen

Peter von Matt: Literaturwissenschaft und Psychoanalyse
Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart (Ditzingen) 2001, 157 S.

„Sigmund Freud“, sagt Peter von Matt, „hat das Lesen verändert.“ Was nicht bedeutet, daß dem das Lesen unmöglich gemacht wird, der Freud nicht gelesen hat. Als der Freud-Freund Arnold Zweig in der DDR seinen Roman Traum ist teuer veröffentlichte, mußten und konnten Kritiker wie Leser des Buches ohne Kenntnis von Freud das Buch lesen. Und lesen was? Inge Diersen, die rühmenswerte, reglementierte Germanistik-Professorin an der Berliner Humboldt-Universität, gestand ihren Studenten: „Ich hätte nur die Hälfte des Romans verstanden ohne Freud.“ Und Diersen fügte hinzu: „Im Grunde ist Thomas Mann nicht ohne Nietzsche und Freud zu verstehen.“

Diese Meinung deckt sich mit dem, was Peter von Matt in seiner Schrift Literaturwissenschaft und Psychoanalyse sagt. Erstmals 1972 publiziert, ist sie im Laufe der Zeit zum fundamentalen Werk der Thematik geworden. Wiederaufgelegt, äußert der Autor Jahrzehnte später, daß es seine Absicht war, „die einfachste mögliche Antwort zu finden auf die Frage, was sich abspielt zwischen dem Begründer der Psychoanalyse und der Literatur“. Da von Matt über diese Absicht hinauskam, wurde sein Text zu einem lauttönenden Weckruf, der Literaturwissenschaftler, Literaturkritiker, Literaturleser aufhorchen ließ.

Die Literatur war enger liiert mit Nietzsche und Freud, als die Interpreten wahrnahmen, wahrzunehmen in der Lage waren und wahrnehmen wollten. Von Matt raubte den Interpreten die Unschuld. Das hatte nicht zur Folge, daß sich die Literaturkritik in der deutschen Presse seither den Anschein gibt, viel von Nietzsche und Freud zu wissen. Ohne von Matt im Hinterkopf trauten sich viele in den engen Kreis des „Literarischen Quartetts“.

Den Vorhang zu und alle Fragen offen!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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