Eine Rezension von Thomas Böhme

Entzauberung?

Michael Maar: Das Blaubartzimmer
Thomas Mann und die Schuld.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000, 133 S.

Manche Bücher werden vor allem aus Eitelkeit geschrieben, und es sind nicht immer die schlechtesten. Zu dieser Kategorie muß wohl Michael Maars langer Essay über „Thomas Mann und die Schuld“ mit dem reißerischen Titel Das Blaubartzimmer gerechnet werden. Schlecht ist er nicht, denn er liest sich stellenweise tatsächlich richtig spannend, aber die Eitelkeit des Autors blickt ziemlich unverhohlen hinter dem Text hervor, denn vor allem summiert Maar seine Lesefrüchte - der komplette Thomas Mann inklusive Briefe, Tagebücher und jede Menge Sekundärliteratur: Das will schon ein Stück Arbeit heißen! Zugleich suggeriert er, etwas ganz Abgründiges darin entdeckt zu haben: die sprichwörtliche Leiche im Keller des Dichters und Nobelpreisträgers. Daß er den auf die heiße Spur geschickten Leser zum Schluß genauso klug oder dumm stehen läßt, wie der zu Anfang schon war, mag wohl die Redlichkeit des Exegeten untermauern, für den, der Enthüllungen spektakulärer Art erwartet hatte, bleibt das Ergebnis eher dürftig. Wer gar etwas in der Manier „hinter“-gründiger Morphologie sucht, wie sie Arno Schmidt am Werk Karl Mays vorführte (Sitara, oder der Weg dorthin), käme ebenfalls nicht auf seine Kosten.

Ausgangspunkt für Maars Untersuchung war eine Episode im Jahr 1933, als Thomas Mann ein paar Tage lang fürchten mußte, seine frühen Tagebücher könnten in die Hände der Nazis gelangen und von ihnen zu verleumderischen Zwecken mißbraucht werden. Die Panik, die das bei ihm auslöste, bis hin zu Selbstmordgedanken, steht in keinem Verhältnis zu allem, was man sonst aus dem Leben des „Zauberers“ bereits wußte. Seine Homosexualität allein kann es nicht gewesen sein, da sie im Werk bereits mehrfach thematisiert war und Mann seinerseits nicht müde wurde, den engen Zusammenhang zwischen Leben und Werk hervorzuheben. Da diese ominösen Tagebücher nicht mehr existieren - sie fielen einem der von Mann selbst veranstalteten Autodafés zum Opfer - schließt Maar auf andere, weitaus peinlichere oder gar inkriminierende Äußerungen und stößt nunmehr auf eine obskure Blutspur, die sich von den frühen Erzählungen Tobias Mindernickel und Der Kleiderschrank über die Joseph-Romane bis zum Doktor Faustus zieht. Das ist in der Tat eine erstaunliche Häufung, die nur deshalb nicht jedem Mann-Leser geläufig ist, weil er dem Schrecklichen in verschiedensten Maskierungen begegnet (Geträumtes, Fabuliertes und von Romanfiguren nur wiedergegebene oder erinnerte Episoden). Dennoch bleibt genug an Mord, Schändung, Gewalt gegen Mensch und Tier, daß Maar sich zu Recht fragt, wann und wo in dieser bürgerlichen Biographie jenes Ereignis stattgefunden haben mag, das den Dichter zeitlebens traumatisiert hat und sein gesamtes Werk, ähnlich dem Dostojewskis, zu einer Art Generalbeichte werden ließ (immer eingedenk der Voraussetzung, daß Manns Schreiben durchweg seine Entsprechungen in der Vita gehabt hat). Maar datiert diesen Auslöser in die Zeit von Manns Italienreisen 1896/97, und er hat sogar recherchiert, ob es in der fraglichen Zeit in Neapel oder Rom ungeklärte Morde an Strichjungen oder ähnliche Delikte gegeben habe. Da seine Nachforschungen keine konkreten Hinweise ergeben haben, verlegt er sich auf die Spekulation, Mann hätte ja durchaus Zeuge einer Gewalttat sein können, was bei einer sensiblen, leicht erschütterbaren Psyche dieselben Symptome erzeugt hätte wie eine selbst begangene Tat. So bleibt also das von Erika Mann beschworene Blaubartzimmer nach wie vor unbevölkert, und außer einer toten Katze, die Hofmannsthal in Thomas Manns Haus entdeckt haben will, wird man auch weiterhin vergebens nach der Leiche im Keller des großen „Zauberers“ graben.

Dennoch verspricht Maars Büchlein eine kurzweilige Lektüre vor allem für all jene, die sich im Werk Thomas Manns selbst mehr oder weniger gut auszukennen glauben, denn manche Episode wird man gewiß mit harmloseren Augen gelesen haben. Aber auch für die, die vor dem Riesenwerk bislang noch zögerlich standen - was soll man wohl zuerst in die Hand nehmen -, enthält das Blaubartzimmer jede Menge Anregungen, sich nicht vor lauter Respekt die Lust am Leseabenteuer Thomas Manns nehmen zu lassen. Warum allerdings ein Text von gerade mal 110 Seiten einen Apparat von 122 Anmerkungen benötigt - abgesehen von den Zitatnachweisen hätten etliche davon gut und gerne in den Essay eingefügt werden können - bleibt ein Geheimnis des Hauses Suhrkamp.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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