Eine Rezension von Bernd Heimberger

Geradegerückte Geschichte

Reinhard Lauer: Geschichte der russischen Literatur
Von 1700 bis zur Gegenwart.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 2000, 1072 S.

C. H. Beck ist der Name für einen Verlag mit Kontinuität in der Qualität. Ein Name, der auch für gewachsene Traditionen steht. Tradition des Münchner Verlagshauses ist es, sich um russische Literatur zu kümmern. Nicht nur, wie das der Reclam Verlag vor 125 Jahren und der Malik-Verlag vor 75 Jahren taten, die bekannte und neue Autoren ins Deutsche brachten. Zu den Autoren, den Linien der Literatur hat C. H. Beck die Literaturgeschichte geliefert. Lange war die „Russische Literaturgeschichte in Einzelporträts“ das Bildungsgut des Bürgertums, die der Schriftsteller, Übersetzer, Literaturhistoriker Alexander Eliasberg verfaßt hatte. Mit der Zeit ging die Zeit über Eliasberg hinweg. Der 1935 geborene Göttinger Slawist Reinhard Lauer ist ein Nachfahre von Eliasberg bei C. H. Beck. Seine monumentale „Geschichte der russischen Literatur“ stellt manches von dem in den Schatten, was in deutschsprachigen Breiten in den zurückliegenden Jahrzehnten zur Sache publiziert wurde. Das gilt für den Inhalt. Auch für den Umfang, der nur von Editionen in der DDR zur russisch-sowjetischen Literatur übertroffen wird. Letztendlich ist Lauer denen näher als dem gefühlvoll-polemischen Buch von Eliasberg. Mehr als einen winzigen Hinweis ist Lauer der verdienstvolle Eliasberg nicht wert. Alles, was Eliasberg nicht hatte, Abstand, Zeit und die Ruhe des Sondierens, hatte Lauer. Der Wissenschaftler kann gelassen auf den Pessimismus der Widerständler gegen die Sowjetliteratur reagieren. Der Niedergang der Sowjetgesellschaft ist ihm kein Narkotikum, das in Euphorie versetzt. Lauer schaut und zeigt auf die Linie der russischen, russisch-sowjetischen Literatur „Von 1700 bis zur Gegenwart“. Was und wie sie ist, ist ein Triumph für die Literatur. Ein Triumph der Schriftsteller, die unter allen Umständen schrieben. Das bedeutet, daß sie ihr Leben verwirkten, sich selbst liquidierten, Verbannung und Exil aussetzten.

Interessant und nicht unerheblich für die neue Geschichtsschreibung der russischen Literatur: Lauers These von den drei Phasen der Emigration im 20. Jahrhundert. Interessant, wenn die Ausführungen des Wissenschaftlers mit denen der mehrbändigen „Geschichte der russischen Sowjetliteratur“ verglichen wird, die ab 1973 im Ostberliner Akademie-Verlag erschien und die für Lauer gewiß nicht ohne Nutzen war. Verschämt, verstellend, verklärend, verlogen werden Schicksale von Schriftstellern dargestellt, die nach dem Oktober 1917 Rußland verließen. Widersprüche in der Person, Enttäuschungen in der Emigration, qualvolles Suchen sind wiederkehrende Formeln, mit denen versucht wird, den Biographien und der Literatur der Exilierten beizukommen. Treffend stellt Reinhard Lauer fest: „... die Emigrantenliteratur hat viele der alten Werte bewahrt“. Neue Werte wurden ermöglicht, wenn die Literaten „zur Symbiose mit den gastgebenden Kulturen“ bereit waren. Ein blendender Beweis dafür ist das Werk von Vladimir Nabokov. Von der „Selbstisolierung der Sowjetgesellschaft“ zu sprechen, was beträchtliche Folgen für die Literatur hatte, wagten die DDR-Wissenschaftler nicht. Also machten sie keine weitere Emigrantenwelle aus. Also gab's für die Slawisten aus der DDR keinen Fall Tarsis. Für Lauer ist Valerij Tarsis der erste sowjetische Schriftsteller, dem während einer Auslandsreise - Februar 1966 - die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Damit begann die „Dritte Emigration“. Die zweite, weniger gravierend, vollzog sich während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Die „Auslagerung“ der russischen Literatur, extrem in den zwanziger Jahren, als Berlin zu ihrem Zentrum wurde, war immer ein Begleitzustand des Landes. Vom Vor- und Nachteil. Letztendlich kam Rußlands Literatur immer von Russen und meist aus Rußland. „Auch die Sowjetliteratur entfaltete ... in breitem Umfang Ausdrucks-, Kommunikations- und Verbreitungsformen“, ist das Fazit des Göttinger Professors. Vorurteilslos kann der Tatsachen konstatieren. Lauer ist nicht beherrscht von der Polemik des Beleidigten (Eliasberg). Er ist frei von dem Diktat der Ideologie (DDR-Wissenschaft). Souverän ist sein Überblick über die historisch beendete Sowjetgesellschaft, mit der weniger das Land, doch die Literatur noch eine gute Weile leben wird. Das sagt der Wissenschaftler so nicht. Statt dessen stochert er im Nebel der Möglichkeiten der russischen Literatur von morgen. Richtig: „Prognosen gehören gewiß nicht zum Geschäft des Literaturhistorikers.“ Reinhard Lauer ist fein raus. Er sah sich immer einer Menge fehlgeleiteter Gedanken, fehlgedachter Ideen zur russischen Literatur gegenüber und konnte ordentlich was geraderücken. Seine Literaturgeschichte korrigiert viel von dem, was in vergangenen Jahrzehnten in Umlauf kam. Die Konkretheit des Wissenschaftswerks von Reinhard Lauer gibt ihm eine Konsistenz, die es zu einem solideren Baustein macht, als das Alexander Eliasbergs Beitrag zur russischen Literatur sein konnte. C. H. Beck sei Dank!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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