Eine Rezension von Gisela Reller

Vom Baltischen Lindbergh zum Handlanger der Nazis

Anton Künzle/Gad Shimron: Der Tod des Henkers von Riga
Aus dem Hebräischen von Christina Mulolli und Elisabeth Hausen.
BLEICHER VERLAG, Gerlingen 1999, 240 S.

Im September 1964 erhält ein Kommando des israelischen Geheimdienstes Mossad den Auftrag, den lettischen Handlanger der Nazis Herbert Cukurs zu liquidieren. Cukurs wird der Mord an über 30 000 lettischen Juden zugeschrieben. Da er sich durch besondere Grausamkeit auszeichnete, ging er als „Der Henker von Riga“ in die Geschichte ein. 1946 war es ihm gelungen, nach Brasilien zu flüchten, wo er in Sao Paulo ein Lufttaxiunternehmen für Touristen betrieb. Der Hauptagierende der Rächergruppe, die sich „Diejenigen, die niemals vergessen“ nennt, ist Jitzchak (den Nachnamen erfährt der Leser nicht), getarnt als Anton Künzle, Offizier der Naziwehrmacht und solider österreichischer Geschäftsmann der Nachkriegszeit. Es gelingt ihm, das Vertrauen von Cukurs zu erringen, obwohl dieser Tag und Nacht Angst vor jüdischer Vergeltung hat, bewaffnet ist und jedermann gegenüber aufs äußerste mißtrauisch. Der kleine rundliche „Anton Künzle“ mit Bauchansatz lockt ihn dennoch mit einer Perspektive neuer Aufstiegsmöglichkeiten aus dem brasilianischen Sao Paulo nach Montevideo in Uruguay, wo das fünfköpfige Mossad-Kommando ihn am 23. Februar 1965 tötet: erschlägt und erschießt. Wortreich von sich eingenommen, gibt der Autor „Anton Künzle“ die Vorbereitungen der Operation und die Tarnungsmanöver bis in gänzlich unbedeutende Details wieder, auch die scheußlichen Einzelheiten der Erschlagung. Was aber bietet das Buch über Cukurs an Fakten? 1900 in Libau als Sohn des Inhabers einer Mechaniker-Werkstatt geboren, nahm er 1919 am lettischen Unabhängigkeitskrieg teil, diente später in der Luftwaffe, wurde als Pilot und Luftfahrttechniker ausgebildet. Im März 1933 (im Buch falsch mit 1934 datiert) absolvierte er in einem selbstgebastelten Doppeldecker einen äußerst waghalsigen Flug von Riga nach Gambia. Cukurs wurde in Lettland mit einem Schlag berühmt, „Baltischer Lindbergh“ war nur einer der Beinamen für den wagemutigen Abenteurer. Was seine Beziehung zu Juden anbelangt, so wird im Buch behauptet, daß er über seine Palästina-Reise 1937 einen Vortrag im Jüdischen Club gehalten habe, in dem er „beeindruckt“ und sogar mit Begeisterung über die zionistischen Aktivitäten gesprochen haben soll. Weiter habe Cukurs zwar, „wie in militärischen Kreisen üblich, von Zeit zu Zeit antisemitische Bemerkungen fallen lassen“, habe aber nicht als Judenhasser gegolten. Wie nun wurde Cukurs im jüdischen Ghetto von Riga Adjutant von Major Viktor Araja, dem Chef des Mordkommandos, und selbst ein Massenmörder? Die Buchautoren skizzieren die Persönlichkeit Cukurs nur sehr oberflächlich mit wenigen biographischen Details, ersparen sich (und leider auch dem Leser) eine sozial-psychologische Analyse seines Werdegangs. Deshalb ist besonders aufschlußreich, was Margers Vestermanis, der Leiter des Rigaer Museums „Juden in Lettland“, nach Erscheinen des Buches schrieb: „... Nach Angaben des Kriegsmuseums in Riga soll Cukurs 1926 im Range eines Oberleutnants durch ein Disziplinarverfahren aus der Luftwaffe verabschiedet worden sein wegen Verstößen, die der Ehre eines Offiziers abträglich sind. Daraufhin mußte sich Cukurs sein Brot sechs lange Jahre als Taxifahrer verdienen. Über den Abbruch, den dieser soziale Abstieg Cukurs' Charakter angetan hat, läßt sich bloß mutmaßen, doch hat die Demütigung seinen krankhaften Geltungsdrang bestimmt enorm gesteigert, aus dem dann seine Menschenverachtung und Brutalität resultierten. Er wird sich wohl später in der Zeit des großen Erfolges und seiner Wiederaufnahme in die Luftwaffe im Hauptmannsrang vorgenommen haben, um jeden Preis ,obenauf’ zu bleiben. Als er 1937 zum Studium an der Latvijas Universitate abkommandiert wurde, stellte sich alsbald heraus, daß es ihm an elementarem Wissen mangelte. Um eine öffentliche Blamage zu vermeiden, mußte Cukurs Nachhilfestunden bei seinem jüdischen Kommilitonen Scholem Kobliakow nehmen. Kobliakow schrieb in seinen Anfang der neunziger Jahre entstandenen Erinnerungen, er habe anfänglich die Möglichkeit, den berühmten Flieger unterrichten zu dürfen, als große Ehre empfunden. Es habe sich aber bald herausgestellt, daß Cukurs ein ‚begrenzter, bornierter, ungebildeter und grober Mensch war, dem die Karriere den Kopf verdreht hat‘. 1939 eröffnete Cukurs seinem Mentor in einem vertraulichen Gespräch: ‚Weißt du, Scholem, daß wir Letten euch nicht mehr nötig haben. Wir sind jetzt selbst befähigt, die Industrie, den Handel und die Finanzen zu leiten‘. Das war eine allgemeine Haltung der jungen Kader der lettischen Oberschicht. Aber nur bei wenigen entwickelte sich aus dieser Einstellung eine Bereitschaft, auf die grausamste Weise sich der Juden zu ‚entledigen‘.

Unfaßbar im Buch die Aussagen von Überlebenden, die überzeugend die sadistischen Quälereien und schrecklichen Mordtaten Cukurs’ belegen. Aber Cukurs hat nicht nur selbst gemordet, ihm waren auch die Polizisten des Polizeireviers unterstellt, die Männer, Frauen und Kinder unter unermüdlichem Gebrauch der Schußwaffen zum Massengrab trieben.

Das Buch von Anton Künzle und Gad Shimron erlangt gegenwärtig gerade wieder große Aktualität auch durch den Auslieferungsantrag Lettlands, Konrad Kalejs betreffend, der Mitglied eines SS-Erschießungskommandos gewesen sein soll, das 1941 bis 1942 Tausende von Juden im Konzentrationslager Salaspils ermordet hat. Australien, wohin der vermutliche Kriegsverbrecher nach dem Zweiten Weltkrieg geflohen war, hat es jedoch ganz und gar nicht eilig, Kalejs auszuliefern. Genau so, wie es das israelische Mossad-Kommando mit Cukurs und Brasilien befürchtet hatte. Wird Kalejs ausgeliefert, wäre er der erste Lette, der im eigenen Land wegen Mittäterschaft an der Judenvernichtung vor Gericht käme.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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