Eine Rezension von Volker Strebel

Wie der Kruppstahl enthärtet wurde

Edwin Kratschmer: Habakuk oder Schatten im Kopf
VdG Verlag und Datenbank Geisteswissenschaften, Weimar 2001, 222 S.

Mit Habakuk liegt ein leidenschaftlicher Roman vor, ein dichtes Wortgewebe, ein Textteppich, von dem man sich, einmal darauf gewagt, nicht mehr zurückziehen kann. Ein Roman, der seinen Leser mit Haut und Haar zu verschlingen vermag. Habakuk ist der Versuch einer Wortkunst, der die totalitären Verbrechen des 20. Jahrhunderts in den Knochen steckten. In diesem Vorhaben unternimmt, abstrakt gesprochen, der Mensch eine tiefschürfende Selbstbefragung: Was habe ich getan, was hätte ich getan, wenn ...? In der Vorrede an einen nicht näher bezeichneten F. warnt Habakuk vor dem vorliegenden Skript, Erschrecken könne nicht erspart werden, und ganz biblisch wird mit einer Hoffnung ebenso spekuliert, auf „daß ein Erschrecken vor uns selber heilsam sein könnte“. Den Propheten Habakuk des Alten Testaments kennzeichnet eine kunstvolle Sprachgewandtheit. In eindrucksvollen Versen besingt er das Schicksal seines Volkes. Und er lamentiert über immer wiederkehrende Fragen der Menschheit: „Wie lange noch?“ und: „Warum?“.

Ob mit F. Jürgen Fuchs gemeint ist, der in der DDR als jugendlicher Verseschreiber Edwin Kratschmer Textproben vorgelegt hat? Es sei, wie es sei. Entscheidend ist der Blick in die ewigen Mechanismen von Anpassung und die dazugehörigen hausgemachten Rechtfertigungen vor sich selbst, und dieser Blick ist im vorliegenden Roman auf eine existentielle Weise gelungen.

Von schwarzen Quartheften ist die Rede, in welchen sich ein gewisser Franta Pollatschek, der sich der Einfachheit halber auch Franz Poll nannte, die Seele aus dem Leibe geschrieben hatte. Literatur als entsorgter Seelsack. Täter, Opfer - oft vermischt sich diese Gegenüberstellung - und dennoch: Die Plädoyers der Schlußstrichzyniker mobilisieren wieder alle Kräfte, um sich deren Geschmacklosigkeiten vom Leib, will sagen, von der Seele zu halten. „Manmußdochauchvergessenkönnen“ oder „dieanderendochauch“ - diese ewigen Formeln der Täter sowie ihrer spießigen Gesellen aus der Nachhut werden in Kratschmers Roman in einem Wort geschrieben, man kennt deren Verwendung aus unterschiedlichsten politischen Zusammenhängen. In der DDR hatte sich Edwin Kratschmer dem Ansinnen der Stasi auf Zusammenarbeit verweigert.

Die differenzierte Verwendung stilistischer Mittel reizt Edwin Kratschmer professionell aus. Vergleiche und Metaphern gehen ein Bündnis ein, welches der lebendigen Fülle Vitalität einhaucht, auch wenn von Traurigem die Rede ist: „Man kann am Denken eingehen wie Heringe im Rauch.“

Habakuk oder Schatten im Kopf ist ein lebenspraller Roman - Leben und Liebe, Freude und Verrat im Spiegel des vitalistischen Menschenkonzepts des Alten Testamentes: „Wo soll da noch das Wunder sein: In Sekundenschnelle werden zweisechsacht Menschen in die Welt gestanzt. Das Fließband läuft. Zweisechsacht, indes du einmal gähnst spuckst schnupfst schneuzt schniefst schnarchst furzt. Zweisechsacht, während dein Stuhlgang flutscht. Und so viel geiles Gesam wartet auf der Welt. Ein Ausstoß: dreivier Millionen Spermien. Gesam wie Gestirn am Firmament, zweisechsacht im Galopp und Handumdrehn: tugendhaft und treu wie Ruth, groß und schön wie Saul, falsch und durchtrieben wie Delilah, stark und dumm wie Goliath, mißraten und bös wie Elias' Söhne, gemein und gewaltig wie Abimelech.“

Kein Wunder, daß angesichts dieses Figureninventars Habakuk alias Edwin Kratschmer einen eleganten Bogen zur heutigen Zeit zu schlagen vermag, zur Jetztwelt, zu den zwei deutschen Diktaturen. Ein praller intertextueller Dialog zieht sich durch die Dialoge. Sprüche der alttestamentarischen Propheten sowie anderer biblischer Stellen, Goethe oder auch Marx ordnen sich organisch ein in diese Beichte. Phrasen der Nazizeit, Losungen der Kommunisten oder auch Hetzrufe unserer Tage begleiten die Szenerie, immer wieder gewürzt mit Anspielungen auf Namen, Buchtitel, z. B. Wie der Stahl gehärtet wurde - einen Paraderoman des Stalinismus - oder auch Personen. Daß sich „manch einer die Zähne ziehen ließ, weil er in ihnen Abhörgeräte glaubte“, ist in der DDR ja tatsächlich vorgekommen. Jürgen Serke hat darüber Erschütterndes über den Schriftsteller Günter Ullmann berichtet.

Bedenkt man, daß dieser Roman im Jahr 1961 entstand und erst 1994 zu Ende geführt wurde, verwundert nicht, daß Edwin Kratschmer Herausgeber der Reihe „Gerettete Texte“ wurde. Eine Serie, die sich Texten widmet, welche die Zeit des „real existierenden Sozialismus“ in Schubladen überlebt hatten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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