Eine Rezension von Wolfgang Buth

Wertvoller Beitrag zur Regionalgeschichte und wider das Vergessen

Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte
Biografien – Orte – Begegnungen.
Hrsg. vom Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e. V.
Unterstützt durch die WBM Wohnungsbaugesellschaft Berlin-Mitte mbH.
trafo verlag dr. wolfgang weist, Berlin 2000, 304 S.

Es war eine bewegende Veranstaltung, als Horst Helas im Centrum Judaicum in der Oranienburger Straße sein neuestes Buch - Juden in Berlin-Mitte. Biografien - Orte - Begegnungen - vorstellte. Eingeladen hatten der Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel e. V., der trafo verlag und die Stiftung „Neue Synagoge Berlin - Centrum Judaicum“. Deren Direktor, Hermann Simon, begrüßte als Hausherr alle Anwesenden, dankte dem Autor und seinen Mitarbeitern, dem Herausgeber und dem Verlag für das vorliegende Werk und drückte seine Freude aus: „Endlich ist dieses Buch da. Wir können sagen: Es ist geschafft!“ Auch Herwig Schirmer, der Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg, fand sehr emotionale Worte für dieses Buch, in dem 30 Frauen und Männer zu Wort kommen, die früher in Berlin-Mitte wohnten und arbeiteten. Wegen ihrer jüdischen Herkunft wurden sie ab Januar 1933 von den Nationalsozialisten bedrängt, verfolgt und eingesperrt. Sie, die überlebten, erzählten den Autoren auch vom Schicksal vieler Familienangehörigen und Freunde, die ermordet wurden. Am meisten habe ihn, so der Staatssekretär, der Mut zum Weiterleben beeindruckt, und er erwähnte ausdrücklich Frieda Gottesmann, geborene Grabischewski, die er in den 90er Jahren in der Nähe von Bremen kennenlernte. Sie lebte in Berlin-Mitte, verlor fünf Angehörige, lebt in einem Kibbuz in Israel. „Insbesondere die Jugendlichen müssen wissen, was in Berlin mit den Juden geschah.“

Das Buch ist ein wichtiger Beitrag zur Regionalgeschichte Berlins, der das Miteinanderleben von Juden und Nichtjuden in Berlins Mitte in seinem Wandel dokumentiert. Die Publikation stützt sich auf die Arbeit eines Teams, das im Rahmen einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme 1994/95 zum Thema „Juden in Mitte“ wesentliche Grundlagen für dieses Buch schuf. Diesem Team gehörten an: Helgard Behrendt, Sabine Geßner, Horst Helas (Leiter), Manfred Otto, Günter Schneider (†), Petra Warschat, unterstützt von Eberhard Tauchert. Autor und Herausgeber bedanken sich für die Mitarbeit an diesem Buch bei Helgard Behrendt (Texte über Zeev Rebhun, über Max Drimmer und Herman Shine sowie über Bertha Herbst; Interview mit Rose Winterfeldt), Birgit Gregor (redaktionelle Mitarbeit; Glossar; Text über das Altersheim in der Litzmannstraße/Gerlachstraße) und Sabine Krusen (Texte über den Synagogenverein Beth Zion in der Brunnenstraße 33 und über das Minna-Schwarz-Heim in der Brunnenstraße 41).

Horst Helas betrachtet dieses Buch, wie er selbst sagte, als „Zwischenergebnis zu weiteren Forschungen“. Am bewegendsten für ihn und sein Team waren die Begegnungen mit den Menschen, den ehemaligen Mitbürgern, den in Berlins Mitte lebenden Juden u n d Berlinern. Seine Gesprächspartner, die zunehmend Vertrauen faßten, teilten ihm offen und schonungslos ihre erschütternden Erlebnisse mit – mündlich, telefonisch, brieflich – und überließen ihm Fotos, Briefe, Ausweise, Quittungen u. a. Dokumente. Diese jüdischen Menschen, die bis 1933 als einfache Mitbürger in Berlin-Mitte wohnten und arbeiteten, sind die eigentlichen Autoren, die Hauptpersonen, die Helden des Buches. Als Horst Helas die von fern angereisten Gäste begrüßt und einer von ihnen, Max Drimmer, früher Berlin-Mitte/Prenzlauer Straße, jetzt Kalifornien/USA, zu den Anwesenden spricht, applaudieren alle im großen Saal des Centrum Judaicum, aber der Beifall enthält mehr als Bewunderung und Anerkennung. Die Rückkehr nach 67 Jahren hat einen Hauch der Wehmut, der Beklommenheit und – auf beiden Seiten – wohl auch der Verlegenheit. Es ist gar nicht so selbstverständlich, daß die jüdischen Mitbürger aus Berlin-Mitte, die einst außer Landes hatten gehen müssen, heute einem gegenübersitzen, aus ihrem Leben erzählen. Solche Begegnungen regen an, über deutsche Geschichte nachzudenken. Sie vermitteln den Jüngeren aber auch Erfahrungen, „damit die Nacht nicht wiederkehre“.

Autor, Herausgeber und Verlag wollen mit dieser Publikation helfen, insbesondere die Erinnerung an den nationalsozialistischen Terror gegen Juden in Deutschland, der in den Berichten der vorgestellten Frauen und Männer eine große Rolle spielt, wachzuhalten. Die informative Schrift gliedert sich in zwei Teile, in den wissenschaftlichen Übersichtsteil: „Juden in Berlin-Mitte – ein Überblick“ und den biographischen Teil, wo die Zeitzeugen zu Wort kommen: „Biografien – Orte – Begegnungen“.

Der erste Teil gibt einen kurzen Abriß über die Entstehung und Entwicklung jüdischen Lebens in Berlin-Mitte, insbesondere im sogenannten Scheunenviertel. Hier lebten aber nicht nur Juden, sondern auch viele nichtjüdische Mitbürger aus ärmeren Schichten. Horst Helas hebt hervor: „Die Notwendigkeit des Zusammenlebens auf engstem Raum schloß die Akzeptanz des Andersseins der Mitmenschen ein. Alle, die hier lebten, mußten miteinander auskommen ...“ An fünf biographischen Stationen (Schule; Geschäfte; Arbeit und Beruf; Sitten und Bräuche; Freizeit) wird in Text und Bild anschaulich gezeigt, wie das jüdische Leben eingebunden war in das großstädtische Leben Berlins. Die gegenseitige Toleranz der Religionen behielten die meisten der Betroffenen in dankbarer Erinnerung. Nach 1933 sollte sich das dann aber grundsätzlich ändern ...

Die im Hauptteil zusammengefaßten Aussagen der jüdischen Zeitzeugen sind in ihrer Gesamtheit nicht einheitlich, meist unterschiedlich wie die verschiedensten Lebensläufe, aber immer erschütternd. Horst Helas hat die verschiedenen Biographien in Abschnitte gegliedert, nach gewissen Ähnlichkeiten und Orten. In dem Abschnitt „Die Rebhuns“ kommen Adele Bogner, geborene Rebhun, Barbara Rebhun (Pnina Gutman) und Zeev Rebhun zu Wort. Hier steht e i n e ausgewählte jüdische Familie im Mittelpunkt. Der nächste Abschnitt führt uns in die jüdische Geschäftswelt: „Sie und viele andere hatten ein Geschäft in Berlin-Mitte.“ Hanni Appel, geborene Laufer, Walter Tick (Tikotzki), Emanuel Spira, Martin Sand, Edith Karpel-Coulson, Siegbert Weinberger und Martin Bettauer sowie Miriam Heymann, geborene Lobatz, erzählen von ihren Kindheitserinnerungen, dem Leben ihrer Eltern als einfache Händler und Gewerbetreibende, dem Juden-Pogrom im November 1938 und dem Ende ihrer Betriebe. „Zwei Jungen aus der AHAWAH“ – dieser Abschnitt erzählt von Isaak Bergbaum und Otto Weiß, die in diesem Kinderheim („AHAWAH“ – das ist der hebräische Name für „Liebe“) in der Auguststraße 14 aufwuchsen. Im nächsten Abschnitt „Orte und Menschen, Synagogen und ihre Rabbiner“ steht das religiöse Leben der Juden im Mittelpunkt (in den anderen Abschnitten mehr am Rande). Heinz Alexander berichtet von seinen Erinnerungen in der Synagoge in der Oranienburger Straße, damals und heute. Nathan Höxter und Sol Landau, die Söhne zweier Rabbiner, kommen zu Wort. Vorgestellt werden der Synagogenverein Beth Zion in der Brunnenstraße 33, das Minna-Schwarz-Heim in der Brunnenstraße 41 und ein heute verschwundener Ort – das Altersheim in der Litzmannstraße/Gerlachstraße. (Das Glossar im Anhang erweist sich als sehr nützlich, erklärt es doch alle im Text vorkommenden, zumeist jüdischen Begriffe, z. B. „Bar Mizwa“, „Bat Mizwa“, „Channuka“, „Kaddisch“, „Pessach“ oder „Talmut“.) In dem Abschnitt „Flucht aus Deutschland“ stehen die Schicksale von vier geflohenen Berliner Juden im Mittelpunkt: Regina Schuldenfrei, Rosa Sacharin, geborene Goldschal, Horst Senger und Günter W. Cohn. Einige wenige Berliner Juden aus Mitte, die nicht fliehen konnten oder auch wollten, „tauchten unter“. „Überlebt in Berlin“ (so ein weiterer Abschnitt) haben u. a. Rose Winterfeldt, geborene Lehmann, Herta Drimmer, geborene Zowe, Inge Campbell, geborene Warhaftig, Ludwig Steuer und Horst Gessner. Sie erinnern sich und sind allen dankbar, die ihnen halfen.

In dem Abschnitt „Ich trage eine Nummer auf dem Arm“ berichten Berliner Juden, die das Grauen in faschistischen Konzentrationslagern überlebten, wie Jürgen Löwenstein und Berta Herbst, geborene Jachmann. Oder Max Drimmer und Herman Shine, das Freundespaar, das im August 1944 aus dem KZ Auschwitz floh. „Die Odyssee der Freunde ... mündet in einen Festtag, den sie sich in den Jahren zuvor auch in den kühnsten Träumen nicht hätten ausmalen können: eine Doppelhochzeit nach jüdischem Ritual in Berlin. Die Stadt ist ein einziges Trümmermeer. Es leben vielleicht noch 1 500 Juden hier. Es waren einmal 170 000. An die 60 000 wurden umgebracht, die anderen in alle Welt zerstreut. Selbst fünfzig Jahre später sprechen die Freunde immer wieder von dem Wunder ihrer Rettung – und davon, daß selbst ihre Ehefrauen darin eine wichtige Rolle spielten, ehe sie am gleichen Tag heirateten.“ Das beigefügte Foto von der Doppelhochzeit am 17. Februar 1946 zeigt Herman und Marianne Shine und Herta und Max Drimmer – die jungen Frauen leicht lächelnd, die jungen Männer todernst, ein erschütterndes Dokument.

Oder Frieda Gottesmann, geborene Grabischewski, die fünf nahe Angehörige durch den Holocaust verloren hat: „Damals, in dieser Woche, holte man 70 000 zur Vernichtung raus. Seit diesem Tag sah ich meine teure und geliebte Familie, meinen Vater, meine Mutter, meinen Zwillingsbruder, meinen kleinen Bruder und meine kleine Schwester nie mehr wieder. Alle gingen sofort zur Vernichtung! Ich stand in einer Reihe mit meiner Familie, ich war die letzte, und der SS-Mann sagte: ‚Du bleibst hier!‘ Ich weinte und jammerte, aber es half nicht. Damals wurde ich ein zweites Mal geboren und bekam mein Leben zum Geschenk!“ Frieda Gottesmann wurde am 15. April 1945 aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen befreit, seit September 1939 waren zuvor das Ghetto Litzmannstadt, das Vernichtungslager Auschwitz und ein Arbeitslager in Bremen Stationen ihres Weges. „Ich habe am 9. September 1942 im Ghetto Lodz, auf deutsch Litzmannstadt, fünf Personen verloren ... Darum wollte ich fünf Kinder, für jeden, den ich auf so tragische und brutale Weise verloren habe.“ Für jeden ihrer Lieben wollte sie ein Kind gebären. Sie hat es geschafft. Frau Gottesmann hat dem Buchautor Horst Helas erlaubt, aus ihren Briefen Teile zu veröffentlichen, die auch unbekannte Leser interessieren. So berichtet sie über ihr früheres Zuhause in der Linienstraße und die dortige Talmud-Tora-Schule, über ihre Klasse in der jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße, sie erinnert sich an Geschäfte und Lokale in Berlin-Mitte. Im Mai 1999, bei einem Besuch in Berlin, läßt sich Frieda Gottesmann vor ihrer ehemaligen Schule in der Auguststraße gern fotografieren, 69 Jahre liegen zwischen dem alten Klassenfoto von 1930 und dem Bild von 1999. Das Familienfoto von 1936 zeigt sie inmitten der Eltern und Geschwister, von diesen sechs Personen überlebte nur sie!

Der Anhang enthält u. a. die Anmerkungen zum Text (als Endnoten am Schluß des Buches; lesefreundlicher wären Fußnoten auf der betreffenden Seite), eine aufschlußreiche Übersicht über Gedenktafeln in Berlin-Mitte mit genauen Ortsangaben, das bereits erwähnte nützliche Glossar jüdischer Begriffe sowie umfangreiche Literaturhinweise (Auswahl), untergliedert nach speziellen Darstellungen, allgemeinen Darstellungen und Nachschlagewerken, Quelleneditionen und Dokumentensammlungen. Lang ist die Liste der Frauen und Männer, die in dem vorliegenden Buch zu Wort kommen und denen Autor und Herausgeber danken. Einige sind schon verstorben. So ist Horst Helas’ Buchveröffentlichung Juden in Berlin-Mitte. Biografien – Orte – Begegnungen (wie Joachim Zeller, Bürgermeister von Berlin-Mitte, in seinem Geleitwort schrieb) „zugleich ein Gedenkbuch im doppelten Sinne: die Verbrechen an den europäischen Juden nicht zu vergessen und das Nachdenken darüber von Generation zu Generation weiterzutragen“.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite