Eine Rezension von Ursula Reinhold

An den Grenzen des Erzählbaren

Thomas Harlan: Rosa
Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2000, 218 S.

Thomas Harlan (Jg. 1929) begann früh, in den 50er Jahren, den Verbrechen faschistischer Vergangenheit und ihrer personalen Kontinuität zur bundesdeutschen Gegenwart nachzufragen. Er setzte mit seinem Stück „Ich selbst und kein Engel“ den verschollenen Helden des Warschauer Ghettos ein literarisches Denkmal. Als Sohn des Filmregisseurs von „Jud Süß“, Veit Harlan, ist er im inneren Zirkel der nazistischen Führungskreise aufgewachsen und von ihrer Ideologie geprägt worden. Seit 1945 legte der damals Sechzehnjährige einen schwierigen Weg der Auseinandersetzung zurück. Er ist den faschistischen Verbrechen auch als Historiker und Publizist nachgegangen, hat jahrelang in Polen über das erste Vernichtungslager recherchiert, wurde von den polnischen Behörden festgesetzt, weil er auch über Erschießungen in der Zeit nach dem Krieg in der Ukraine berichtete. Er deckte Zusammenhänge auf, die zwischen den Ausführenden und Funktionären faschistischer Vernichtungspolitik und bundesdeutschem Justiz- und Regierungsapparat bestanden. Es liefen verschiedene Verfahren wegen Landesverrats in der BRD gegen ihn, weshalb er in den 60er Jahren nach Italien übersiedelte. Seit den 80er Jahren lebt er in Frankreich. Außer Theaterstücken ist er mit mehreren z. T. preisgekrönten Filmen hervorgetreten, z. B. mit „Wundkanal“ , dem Verhör eines Massenmörders. Mit „Rosa“ legt er seinen ersten Roman vor. Der Roman stellt sich in anspruchsvoller, avantgardistischer Form dar, bei mir hinterließ das Buch den Eindruck, daß der Autor nach Jahrzehnten politischer und publizistischer Bemühungen um Aufklärung von Verbrechen an die Grenzen solchen Tuns gestoßen ist und nun in einem Kunstwerk die Grenzen historischer Rekonstruktion ausschreitet, die immer nur als Annäherung möglich ist. Rosa ist die Geliebte eines ehemaligen Zahlmeisters des ersten faschistischen Vernichtungslagers im Jagen 77 im Walde von Kulmhof, das schon 1941 errichtet wurde und dessen Spuren man schon vor Ende des Krieges zu vernichten suchte. Diese Frau haust nach dem Krieg zusammen mit Josef, der ebenfalls eine dunkle Vergangenheit hat, in den Massengräbern dieses Vernichtungslagers. Sie wartet auf ihren Verlobten Franz, verwahrt einen ganzen Eimer voller Goldringe, die ihr der Verschwundene einst übergeben hatte. Ein Filmteam macht sich auf, um die Ereignisse von damals zu rekonstruieren und scheitert mit diesem Plan nach mehreren Anläufen. Der Roman vermittelt Bruchstücke dieser Recherchen in unterschiedlichen Textsorten. Die Textstücke siedeln auf verschiedenen historischen Ebenen, von ersten Vernehmungen durch polnische Behörden im Jahre 1948 und deren erneute Recherche auf der Grundlage der vorhandenen Akten im Jahr 1956 in Warschau bis zum Bericht eines Arztes über den Identitätswechsel des Verlobten Franz Marholz in einem Krankenhaus von Triest kurz nach dem Krieg. Dazu tritt die Ebene der Rekonstruktion der Vorgänge, die seit 1960 in Mittenwald durch Richard F. beginnt, zum Projekt des Films „Die Reise nach Kulmhof“ wird, das zu weiteren Recherchen führt, in die noch andere Beteiligte einbezogen sind. Die Nachforschungen führen nach Polen, zu Begegnungen mit dem Untersuchungsrichter Leszczynski, der die ersten Untersuchungen nach dem Krieg leitete und jetzt auf dem Sterbebett die Vergeblichkeit seiner Bemühungen beklagt. Schließlich gibt es Drehverbot für den Film während des Kriegsrechts in Polen 1981, was zum Selbstmordversuch Richards führt und zum endgültigen Rückzug in ein afrikanisches Missionshaus, in dem er schließlich stirbt. Auch Franz Marholz, der seine Identität gewechselt hatte, besucht nach Jahrzehnten die Stätten einstigen grausigen Wirkens. Er und seine Freunde verschwinden in der ostpreußischen Seenplatte auf ungeklärte Weise, so wie auch Rosa und Josef sterben, ohne ihre Geheimnisse und ihre Schuldbeteiligung preiszugeben. Die verschiedenen Textsorten, die der Autor stilsicher voneinander absetzt, lassen Erzählsequenzen in verschlungener und verwirrender Prosa entstehen, die sich dem Leser erst langsam in ihrem Charakter als Teile von Vernehmungen, Untersuchungsprotokollen, Krankenberichten, als nachgelassene Bruchstücke des gescheiterten Filmprojekts, von Teilen aus Diskussionsrunden erschließen. Es ist eine Prosa aus Fragmenten, deren Form die Unmöglichkeit der sinnstiftenden Rekonstruktion bezeugt. Dem gespaltenen Erzähler - Ich, Richard – wird in nachgelassenen Fragmenten das Fazit solcher Bemühungen in die Feder gelegt: „ ... ‚Die Reise nach Kulmhof‘, sein Rückweg in die Geschichte, Ende der fünfziger Jahre - als Kunststück zunächst - unternommen, hatte die Geschichte des Rückwegs wie zwangsläufig durch unser Zutun vor Gerichten enden und damit ihren Schmelz, ihre unverzeihliche Unschuld, wie auch die Angeschuldigten, die nur Kunst hätte retten können, ihr Wesen einbüßen lassen und, wie sollte es anders sein, nun ihr Gesicht“ (S. 190). Im Fehlschlagen solcher Bemühungen wirkt die Unabdingbarkeit ablaufender Zeit, die alles Geschehen vergleichgültigt - „dem Schmerz war es längst gleichgültig, wer ihn spürte“- , die Frage nach Schuld und Sühne mit ihr verschwinden läßt. Zudem hat es seinen Grund in der Abwesenheit des Wirklichen im Geschriebenen, die nur jene wundert, „die noch nie eine Geschichte erzählt hatten, ohne zu fürchten, daß alle Wörter, deren sie habhaft geworden sein mochten, an ihrem Inhalt vorübergegangen, und dort, wo sie, über dem Abgrund stehend, wie auf Klippen und in schwindelnder Fallhöhe von diesen angezogen, erstorben waren an ihrem Unvermögen, den Sturz ins Leere zu wagen. Worte, das wußte der vertuschte, nie vermittelte Geschichte wie einen Hof kalten Gestirns umschwirrende Hohlraum, waren Selbstmörder; sie nahmen sich, indem sie auf eine Sache trafen und in ihr aufgingen, eben jenes Leben, das sie der Sache gegeben hatten, und sorgten so, bisweilen mit ganzen Sätzen und deren Bau, in den sie sich auf der Lauer eingegraben hatten, für Stille, für unendliche Stille. Vor eben dieser fürchtete sich R. der Erzähler, der es vorziehen mußte - wollte er das zu beschreibende Ereignis überstehen, ohne an ihm zu verglühen –, an seiner Entfernung zu ihr nicht zu rütteln, und dennoch seine Entweichgeschwindigkeit konstant zu halten“ (S. 203).

„Rosa“ ist ein sprachschöpferischer, gedankenreicher Roman über ungeheuerliche historische Vorgänge, über Schuld und Vergänglichkeit und über die Grenzen menschlicher Fähigkeit, durch Rekonstruktion von Gewesenem Erkenntnisse zu gewinnen und sie in Sprache zu transformieren. Der Autor sucht diese schmerzhafte Gewißheit von Vergeblichkeit ins sprachliche Kunstwerk umzusetzen. Ihm ist die Hoffnung eingeschrieben, daß wenigstens die Mutationen der geschändeten Natur das Gedächtnis an das Ungeheuerliche aufbewahren wird. Er schildert Veränderungen und Erscheinungen, die ans Mystische grenzen. Gespinste aus Schwefelwasserstoffen und Methan setzen Zeichen dafür, daß der Autor mit seinem Buch sich ins Gedächtnis der Zeitgenossen eingraben möchte. Hoffentlich gelingt es! Denn das Buch verschließt sich einfacher Lektüre. Der Verlag hat durch eine angefügte Ereignischronik Lesehilfe zu geben versucht. Leider erweckt er mit der tabellarischen Linearität der Ereignisse und in der Fabelerzählung des Waschzettels völlig falsche Leseerwartungen. Das ist der Aufnahme des Buches wenig förderlich, wie in bereits erschienenen Rezensionen deutlich wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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