Eine Rezension von Wolfgang Buth

Filmschauspielerlexikon ohne Tabus

Frank-Burkhard Habel/Volker Wachter: Lexikon der DDR-Stars
Schauspieler aus Film und Fernsehen.
Mit zahlreichen Fotos sowie Porträtkarikaturen von Harald Kretzschmar.
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 1999, 384 S.

In den 41 Jahren, in denen die DDR existierte, wurden rund 800 Spielfilme und mindestens doppelt soviel Fernsehfilme und -serien gedreht. Es gab historische und Gegenwartsfilme, Lustspiele, Opernverfilmungen und Krimis, Literaturadaptionen und viele besonders schöne Kinderfilme. Im zeitlichen Abstand zum Ende der DDR wundert man sich, wie wenige dieser Filme zum reinen Zweck politischer Propaganda gemacht wurden. Daher kann man auch heute noch vielen Produktionen wiederbegegnen, die bei der DEFA und im Deutschen Fernsehfunk entstanden sind.

Dieses Filmschauspielerlexikon erfaßt Schauspieler, die bei Film und Fernsehen der DDR hervorgetreten sind, also nicht nur DDR-Schauspieler wie Annekathrin Bürger, Ernst Busch, Fred Delmare, Dieter Mann oder Jutta Wachowiak, sondern auch Ausländer wie der sowjetische Schauspieler Sergej Bondartschuk, die niederländische Schauspielerin Cox Habbema, der jugoslawische Schauspieler Gojko Mitic oder die schweizerische (oder Schweizer; nicht schweizer, wie immer falsch im Lexikon) Schauspielerin Olga Strub. Fast alle von ihnen waren und sind aktive Theaterschauspieler, die in vielen Rollen gefeiert wurden. Dieser Bereich mußte im vorliegenden Lexikon ausgespart werden, weil es nach Ansicht der beiden Autoren sonst den Umfang gesprengt hätte. Um keine Ungerechtigkeiten aufkommen zu lassen, werden bei keinem Schauspieler Theaterrollen genannt, es sei denn, daß sie mit seiner Film- und Fernseharbeit im Zusammenhang stehen. Aus dem gleichen Grund werden biographische Stationen, die nicht Film und Fernsehen der DDR betreffen, weitgehend stichpunktartig behandelt.

Beim Blättern in diesem Lexikon kann man sich bei vielen Beiträgen richtig festlesen, besonders, wenn man den einen oder anderen Schauspieler aus verschiedenen Filmen kennt. So erfahren wir z. B., daß der Schauspieler, Regisseur, Autor und Theaterleiter Martin Hellberg eigentlich Martin Gottfried Heinrich (geb. 31. 1. 1905 in Dresden, gest. 31. 10. 1999 in Bad Berka) hieß, Pastorensohn war, während seiner Ausbildung als Maschinenschlosser und technischer Zeichner Schauspielunterricht nahm, 1924 in Dresden sein erstes Engagement hatte und 1933 als KPD-Mitglied am Dresdner Staatstheater entlassen wurde. 1949 wurde er Oberspielleiter und Generalintendant des Staatstheaters Dresden. „Er wirkt in einigen Filmrollen und inszeniert 1951 den Gegenwartsfilm ‚Das verurteilte Dorf‘, der zahlreiche internationale Auszeichnungen erhält. In den folgenden Jahren zählt er zu den produktivsten Regisseuren der DEFA. Spektakulärster Film wird die aufwendig inszenierte Filmbiographie ‚Thomas Münzer‘ mit umfangreichen Massenszenen. Danach wendet sich Hellberg der zeitgemäßen Umsetzung klassischer Stoffe zu und verfilmt für die DEFA Calderon, Lessing, Schiller und Shakespeare. Als dieses Genre vom Fernsehen besser bedient werden kann, beendet Hellberg die Regie-Laufbahn und übernimmt ab und an kleine und mittlere Filmrollen: Wissenschaftler oder Pfarrer. Ein vielbeachtetes Comeback als Schauspieler hat er 1974 an der Seite von ® Lilli Palmer in Egon Günthers Thomas-Mann-Adaption ‚Lotte in Weimar‘ in einer ironischen Interpretation des Dichterfürsten Goethe, eine Rolle, die er anschließend im Fernsehen variiert. In den achtziger Jahren zieht sich Hellberg zurück und veröffentlicht mehrbändige Memoiren (Mit scharfer Optik, 1982).“ Abgeschlossen wird der Eintrag mit der Filmographie: Jahreszahl, Titel des Films; hier bei Hellberg elf Filmproduktionen.

Angeregt folgen wir dem kleinen Pfeil und landen bei Lilli Palmer (eigentlich Lilli Marie Peiser), Schauspielerin und Autorin (geb. 24. 5. 1914 in Posen, gest. 27. 1. 1986 in Los Angeles). Hier vermerkt das Lexikon: Der wohl einmalige Fall, daß sich ein international bekannter Star mit einem Telegramm um eine Rolle bei der DEFA bewirbt. Für Palmer erfüllt sich ein langgehegter Wunsch, als sie die Titelrolle der Thomas-Mann-Novelle Lotte in Weimar unter Egon Günthers Regie verkörpern kann. Der Illustrierten ‚Für dich‘ sagt sie damals: ‚Mir imponiert der Mut der DEFA, einen so komplizierten Stoff, einen Roman voller Dialoge in einen Film umzusetzen. Wer hat schon die Courage, und wer auch die Möglichkeit, einen Film über Goethe zu drehen, ohne Nackedeis, mit Thomas-Mann-Gesprächen!? Im westlichen Filmbetrieb ist der wichtigste Maßstab das Geld, das hereinkommen muß. Da macht man allerhand Konzessionen. Ich bin froh, diese Rolle bei der DEFA bekommen zu haben.‘ (Palmer: Dicke Lilli, gutes Kind, 1974; Huebner: Lilli Palmer. Ihre Filme, ihr Leben, 1986) Wiederum folgt, wie bei allen Einträgen, die ausführliche Filmographie, wobei auch die Länder angegeben werden, die die Filme produzierten; Fernsehfilme werden mit „TV“ extra ausgewiesen.

Das Befreiende an den Texten ist, daß die Autoren offen und ehrlich über „ihre“ Filmschauspieler schreiben können und nicht an irgendwelche staatspolitischen Vorgaben gebunden sind. Besonders deutlich wird das bei solchen Filmschauspielern, die vorher in der DDR lebten und dann in den Westen gingen - ganz offiziell oder einfach „abhauten“. So findet man in dem in der DDR von Joachim Reichow und Michael Hanisch verfaßten Lexikon Filmschauspieler A–Z (Henschelverlag, Berlin 1987) neben verschiedenen anderen Künstlern nicht die Schauspielerin Renate Krößner, die durch ihren Film „Solo Sunny“ (1979/80) damals schon sehr bekannt war und 1985 in die BRD übersiedelte. In dem neuen Lexikon wird nicht nur Renate Krößner ausführlich erwähnt, sondern es werden auch ihr Lebensgefährte Bernd Stegemann (Schauspieler!) und ihr Sohn Eugen Krößner (Schauspieler!) kurz genannt. (In der Einführung erklären die beiden Autoren, daß sie bei der Angabe von Ehen oder Lebensgemeinschaften leider keine Garantie dafür übernehmen können, ob das Verhältnis bei Drucklegung noch aktuell ist, sie hoffen es allerdings im allseitigen Interesse.) Oder ein weiteres vergleichendes Beispiel: Während im DDR-Lexikon von 1987 Manfred Krug als Schauspieler i n  d e r BRD deklariert wird und seine filmischen Leistungen (in der DDR) durchaus gewürdigt und auch seine Auszeichnungen erwähnt werden, heißt es dann am Schluß lapidar und unvermittelt: „1976 [!] ging K. nach Berlin (West), fand aber im Film keine größeren Aufgaben mehr.“ Warum ging Krug in den Westen? Frank-Burkhard Habel und Volker Wachter klären in ihrem Lexikon der DDR-Stars Leser und Zuschauer auf: „Der populäre Künstler wird mehrfach ausgezeichnet, darunter zweimal mit dem Nationalpreis und mit der Verdienstmedaille der DDR. Als Manfred Krug zusammen mit anderen Künstlern im Spätherbst 1976 gegen die Ausbürgerung des Dissidenten und Liedermachers Wolf Biermann protestiert, werden Krugs fertige Filme nicht abgenommen, Dreharbeiten neuer Produktionen annulliert, seine Konzerte boykottiert. Er entschließt sich, 1977 [!] mit seiner Familie in den Westen überzusiedeln.“ (Krug: Abgehauen; Schulz: Manfred Krug, 1989; Blum: Manfred Krug. Seine Filme, sein Leben, 1993)

Belebt wird das Lexikon der DDR-Stars. Schauspieler aus Film und Fernsehen durch die zahlreichen Fotos und die treffenden Karikaturen von Harald Kretzschmar, der die Filmfreunde mit seiner Zeichenkunst in dem kleinen Bändchen (zusammen mit Heinz Thiel) Die nackte DEVA. Anekdoten, Ansichten und Geschichten aus 50 Jahren Film (Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 1998) bereits erfreute (vgl. Besprechung im BLZ 6/1999, S. 107).


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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