Eine Rezension von Sibille Tröml

Gedichte eines moralischen Terroristen

Jürg Federspiel: Im Innern der Erde wütet das Nichts
Gedichte.
Verlag Im Waldgut, Frauenfeld 2000, 48 S.

Daß die deutschsprachige Schweizer Gegenwartsliteratur weit mehr ist als das, was sich an die Namen Frisch und Dürrenmatt bindet, weiß man seit einigen Jahren auch hierzulande. Man kennt Adolf Muschg, Peter Bichsel, Urs Widmer und vielleicht – weil auch in der DDR erschienen – Christoph Geiser, Walter Vogt, Hugo Loetscher, Walter Matthias Diggelmann sowie den „DDR-Schweizer“ Jean Villain. Leserinnen kennen noch oder „nur“ Verena Stefan, deren Erstlingswerk Häutungen (1975) zu einem Kultbuch der bundesdeutschen Frauenbewegung avancierte, und vielleicht Erica Pedretti, Gabriele Allioth oder Hanna Johansen. Nur selten ist dabei bekannt, daß die Heimat jener Frauen die helvetische Republik ist bzw. ist ebenjener Fakt nur selten von Interesse; entweder weil die nationale Zugehörigkeit der Autorinnen für das Verständnis ihrer Texte nicht von Wichtigkeit scheint oder weil Frauen, so denn ihre eigene Erlebniswelt nicht generell verschiedenartig von der gelesenen ist, weniger in national-trennenden Kategorien denken und erleben. Doch wie dem auch sei – Fakt ist, daß es bei dem Stichwort deutschsprachige Schweizer Gegenwartsliteratur im deutschen Namensverzeichnis eher dünn aussieht. Leider, denn das kleine Land hat nicht nur erstaunlich viele Autorinnen und Autoren, es hat auch erstaunlich viele gute Autorinnen und Autoren.

Einer davon ist der 1931 geborene Jürg Federspiel. Bekannt in der Schweiz und bei an der Schweizer Literatur Interessierten außerhalb des Landes, ist sein Name vielen hiesigen Lesern fremd, bedauerlicherweise. Bedauerlicherweise, weil der heute in Basel lebende Schriftsteller und Journalist seit 1961 veröffentlicht und seine Kurzgeschichten, Reportagen, Gedichte, Porträts und Stücke unter anderem in so namhaften Häusern wie Piper, dtv, Diogenes und – immer wieder – Suhrkamp ihre verlegerische Heimat fanden und finden. Bedauerlicherweise, weil seine Werke in verschiedene Sprachen übersetzt wurden und so unter anderem in den USA (mit großem Erfolg), in Italien, Frankreich und Spanien erschienen. Bedauerlicherweise, weil die Texte ungewöhnlich und trotzdem nicht elitär, geheimnisvoll und trotzdem nicht unverständlich, gelegentlich bösartig-hart und trotzdem nicht feindselig-aggressiv sind.

Ein Beispiel dafür geben die unter dem Titel Im Innern der Erde wütet das Nichts versammelten Gedichte. Da einige von ihnen bereits in früheren Prosatexten wie dem 1969 erschienenen Museum des Hasses. Tage in Manhattan zu finden waren und andere erstmals in diesem kleinen Büchlein veröffentlicht werden, präsentiert sich dem Federspiel-Neu-Leser hier auch so etwas wie ein Querschnitt durch das bisherige lyrische Schaffen dieses Autors. Doch halt! Wer angesichts des Begriffes „Querschnitt“ auf datierbare und datierte lyrische „Entwicklungsetappen“ eines ihm unbekannten Schriftstellers hofft, dem sei gesagt, daß er diese nicht finden wird. Einerseits da der Verlag auf Jahresverweise verzichtet hat, andererseits da diese im Falle von Jürg Federspiel auch wenig Sinn machen würden. Von Beginn an nämlich hat dieser Autor in der Prosa wie in der Lyrik sein Thema, und es ist dabei völlig gleich, ob der Erlebnishintergrund seiner Texte die heimatliche Schweiz oder das haßgeliebte New York ist, ob es sich um vergangene Zeiten oder die in seiner Arbeit dominierende Gegenwart handelt. Immer wieder blickt er auf den modernen westlichen Menschen und das – wie es in einem Gedichttitel heißt – „Labyrinth des Alltags“, welches sich ihm vornehmlich in Gewalt und Zerstörung, in Kränkungen und Wahn, in Unmenschlichkeit und Haß, in Blindheit und Destruktion präsentiert. Wen wundert es da noch, „daß Gott nicht mehr zuschaut. Grübelnd, was an der Schöpfung / so großartig sein könnte“ – nachzulesen in „Gerüchte gehen“. Die in solchen Zeilen ausgesprochene Gott-Losigkeit, weil Gott-Verlassenheit des Menschen ist dem Autor, der sich keineswegs gottesfürchtig gibt, auch in diese Richtung provozierendes Synonym für die sich ihm immer wieder aufdrängende Absurdität menschlichen Daseins.

„Es ist nicht wichtig, der Stärkere zu sein, sondern der Lebendige“ – dieses das Motto für seinen ersten Erzählband bildende Zitat könnte denn auch das gesamte bisherige Œuvre und damit natürlich auch die vorliegenden Gedichte überschreiben. In ihnen nämlich schaut jemand unerbittlich um sich, der voll von unpathetischer Sehnsucht nach Lebendigkeit ist. Sie ist ihm Gegenstück zu einem überwiegend als lebensverneinend und daher als sinnentleert und sinnlos wahrgenommenen Dasein, zu einem sich in alltäglich gewordener Un-Menschlichkeit und damit Ent-Artung bewegenden Zeitlauf, welcher wiederum in einer fortschreitenden und irgendwann endgültigen Selbstzerstörung des Menschen gipfelt.

Doch Federspiel, der mit Bildern wie dem von den „zermenschten Bahnhöfen“, der „zerhackte(n) Hand eines Henkers“ und nicht zuletzt mit den in seinen Arbeiten immer wiederkehrenden Ratten schockiert und mit harten Brüchen innerhalb eines Gedichtes ebenso wie mit ganzen Gedichten (vgl. z. B. „Gottes Gewehr bei Fuß“) provoziert, tut all dies nicht, um heimlich und im Hintergrund zu moralisieren. Mit seinen oftmals sehr expressiven Bildern und seinen – so Peter Rüedi in der „Weltwoche“ – „krude(n) Maul-Würfen“ will er vielmehr, wie es scheint, Unruhe und Anregung stiften, will „erschrecken“ und damit „terrorisieren“ im eigentlichen Sinne des lateinischen Wortes. Grund dafür ist seine bereits genannte Sehnsucht nach Lebendigkeit, die in den Gedichten artikulierte oder bildhaft gemachte Sehnsucht nach neuer(licher) Wärme, neuerlichem Licht und „neue(r) Sonne“ (vgl. „Wir Menschen und kein Ende“). Sie wiederum vermag die Versteinerung(en) aufzubrechen und damit eben all die „zweckentfremdeten Menschen“ ohne Sehnsüchte und Schwärmerei, ohne Wärme, Liebe, Träume und Trauer, ohne Sinnlichkeit und sinnliches (nicht: materielles, materialisiertes) Glück.

Mit Jürg Federspiel schreibt also keineswegs jemand, der – wie von oberflächlich lesenden Literaturwissenschaftlern und Rezensenten gern behauptet – den Menschen haßt und ihn verachtet, im Gegenteil. Hier schreibt jemand, der sich selbst als einen Zweifler, nicht aber als einen Verzweifelten bezeichnet. Oftmals sind seine Gedichte grotesk, zornig, wild, empört, gelegentlich mögen sie sogar hart wirken. Und doch gibt es inmitten solcher Texte – Oasen gleich – auch andersklingendes: warme, zärtliche Verse wie etwa das erinnernde Gedicht „Für einen Freund“, das trauernde „Kafkas Türparabel“ oder das sinnlich-lustvolle „Frühling in Zürich“. Sehnsuchtsvoll sind auch sie, die einen Mann zeigen, der die Frauen – „die langbeinigen kurzbeinigen / und alle anderen schönen Wesen“ – verehrt, der sie begehrt, sie bewundert und der sie liebt; nicht jene Mädchen und Frauen, die – als Ehefrauen – ihre Seligkeit im Staubsaugerglück erfahren und die sich in der Unendlichkeit ihrer materiellen Wünsche entsinnlichen. Denn: „Wer mit Gespenstern sich paart, / Rasenmäher, Staubsauger heiratet, / wird Kinder erzeugen, in deren Fingern / Streichhölzer zum Weltuntergang flammen.“ Federspiels Zuneigung und Liebe gehört den Frauen, die „Zeit fanden, / eine Vase mit Blumen zu füllen“ und die eben damit jenen vielen (Männern und Frauen) ihre Sinnlichkeit entgegenleben, die besinnungslos ihr Dasein in Un-Sinn verhetzen.

„Nichts ist giftig. / Alles ist giftig. Es käme / auf die Dosierung an, sagt Paracelsus, der Meister.“ – Da es mit der Dosierung an Lebendigkeit alles andere als gut bestellt ist, hält Jürg Federspiel dieser „Minderdosierung“ nun vier Jahrzehnte lang seine Höherdosierung entgegen. Wer daran Gefallen findet, dem sei schon jetzt verraten, daß es in diesem Jahr vielleicht einen neuen Gedichtband geben wird. Ein einmal unbekannter Name muß es ja – hoffentlich – nicht auf Dauer bleiben ...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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