Eine Rezension von Bernd Heimberger

Lyrische Leucht-Schriften

Lyrik der neunziger Jahre
Hrsg. Theo Elm.
Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2000, 218 S.

Die Clubs der lebenden Dichter sind tot. Ausgeräumt sind die Räume, in denen Dichter auf Dichter trafen. In der Brauhausstraße wie in der Französischen Straße. In Halle an der Saale wie in Berlin an der Spree. Im Mitteldeutschen Verlag wie im Aufbau-Verlag. Sagt mir, wo die Dichter sind, wo sind sie geblieben? Wo der Rainer Kirsch und der Karl Mickel? Wo die Elke Erb und die Brigitte Struzyk? Wo? Weiß die Antwort ganz allein der Wind?

Da, jedenfalls, wo „Lyrik der neunziger Jahre“ draufsteht, sind die Genannten nicht drin. Was nicht bedeutet, daß die Fehlenden die Feder in die Binsen geworfen haben. Was andererseits bedeutet, daß die von Theo Elm ausgetüftelte Anthologie nicht die Versammlung der Dichter der Neunziger ist? Der Herausgeber des Poeten-Auftriebs wird lautstark protestieren. Ist seine Neunziger-Jahre-Lyrik-Auswahl doch eine deutlich ambitionierte Angelegenheit. „Gemeint ist die neue Aktualität der Lyrik“, lautet bereits der zweite Satz der Lektion, auch Einleitung genannt, die Elm für die beflissensten und versiertesten Leser von Versen verfaßte. Denen, denen das Zitat zu nebulös ist – was wäre alte Aktualität? –, erklärt sich der ordnende Sammler wenig später. Mit der Nase stößt er die Leser darauf, worum es wirklich geht, nämlich um „den zeitgeschichtlichen Gehalt der hier versammelten Gedichte“. Na bitte! Hät' wer was dagegen? Aber, bitte, wo sind die vertriebenen Club-Dichter, denen die Zeitgeschichte Blessuren zufügte, die sie nicht still-schweigend hinnahmen, auf die sie nicht mit trotziger Dennoch-Dichtung reagierten. Eine Menge Gewicht hat Elm nicht auf die Waage bekommen – oder genommen? Den Nicht(ge-)beachteten steht ein kleines Kollektiv von „DDR-Gedichtemachern“ gegenüber. Sehr unterschiedlichen Naturells, ist Volker Braun nah bei Uwe Kolbe, Kurt Drawert bei Lutz Rathenow. Auf geduldigem Papier sind sie unter einem Dach vereint, auf dem die Leuchtschrift installiert ist „Nirgendwo bin ich angekommen“. Das trifft auf ein, zwei, drei Dutzend Autoren zu, die kaum eine Chance hatten, in der Anthologie anzukommen. Ungeachtet der Tatsache, daß von ihnen Texte zu den Tagen da sind, die sich in so manches Programm-Teil der Poeten-Sammlung gefügt hätte, die Überschriften wie „Utopia gründlich verkrustet“, „Wenn ich versuche, Gedichte zu denken“, „ein Stück unseres eigenen Lebens“ ordnen. Elm hat bevorteilt, was an konkreten Welt-Lebens-Erfahrungen der Neunziger wahrgenommen wurde und angemessen konkret lyrisch artikuliert. Die Welt-Lebens-Erfahrung der Neunziger wird - wie anders? - von westdeutschen Dichtern dominiert. Die Anthologie ist ein Club prominenter Poeten. Den Ehrgeiz der Elite, möglicherweise elitär aufzutreten, vereitelt Elm mit seinem Ehrgeiz, das Zeitgeschichtliche für die Zukunft zu bewahren. Diese Absicht lindert die Exklusivität der Anthologie, die mit beiden Beinen fester auf dem west-deutschen denn dem ost-deutschen Boden steht. Das war dann wohl doch nicht die Absicht der absichtsvollen Anthologie. Die Geschichte der deutschen Einheit ist das eine, was wir haben. Nach einer einheitlichen Anthologie der Gedichte des ersten Jahrzehnts der deutschen Einheit werden wir weiter Ausschau halten müssen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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