Eine Rezension von Volker Strebel

Samizdat heißt Handeln

Wolfgang Eichwede (Hrsg.): Samizdat
Forschungsstelle Osteuropa.
Edition Temmen, Bremen 2000, 472 S.

In seiner kundigen Einführung „Archipel Samizdat“ beschreibt der Herausgeber Wolfgang Eichwede seine Erregung, als er anläßlich eines Besuches in Prag Ende der 70er Jahre zum erstenmal konspirative Blätter in Händen hielt: „Eine eigene Welt tat sich auf, von Legenden umwoben und Geheimnissen umwittert. Die Schriftstücke waren offenkundig vielfach gelesen, das hauchdünne Papier schon abgegriffen, zur Behutsamkeit mahnend, leicht verletzbar - und doch im Selbstbewußtsein ihrer Autoren mächtiger als ganze Heerscharen von Sicherheitsorganen, die Jagd auf sie machten.“

In einer Zeit der weltweiten elektronischen Vernetzung fällt es schwer, sich vorzustellen, daß bis weit in die 80er Jahre hinein bedrucktes Papier eine Bedrohung für die Machthaber der Staaten des „real existierenden Sozialismus“ dargestellt hatte. So manche nostalgische Erinnerung an diese Zeiten unterschlägt diese Tatsache. Wer auf Nummer Sicher gehen wollte, gab verbotene Schriften nach dem Lesen sofort an absolut zuverlässige Bekannte weiter oder verbrannte die Papiere. „Samizdat“ wird aus dem Russischen hergeleitet, „samsebjaizdat“ bedeutet „sich selbst herausgeben“. Der Hintergrund dieses kulturellen Phänomens ist, eine umfassende Zensur in Form von Druckgenehmigungen zu durchlaufen. Um so durchschlagender, ja verblüffender der Ausweg: „Alles, was du brauchst, sind eine Schreibmaschine, Papier und Kohlenpausen!“

Der sowjetische Regimekritiker Andrej Amalrik packte diese Vorgänge in eine griffige Formel: „Die Andersdenkenden vollbrachten eine Tat von genialer Einfachheit - in einem unfreien Land begannen sie, sich wie freie Menschen zu benehmen.“

In der vorliegenden gewichtigen Publikation untersuchen im ersten Teil 21 Beiträge von namhaften Publizisten und Wissenschaftlern verschiedene politisch-kulturelle Abschnitte in den ehemaligen sozialistischen Ländern. Es werden die Anfänge des Dissens in der Sowjetunion und die Bedingungen unabhängigen Denkens und Handelns in verschiedenen Ländern, die damals als Sowjet-Satelliten bezeichnet wurden, beleuchtet. Den Schwerpunkt bildet die alternative Kultur in Zentral- und Osteuropa der 60er bis zu den 80er Jahren.

„Wie lebte es sich in einem der langweiligsten Staaten der Welt? Wo der Lebensweg längst vorbestimmt und jede Platte der Einstürzenden Neubauten brandheiße Ware war? Wie lebte es sich zwischen Fahnenappell und Jugendweihe, zwischen Staatsbürgerkunde, Singebewegung und Solidaritätsbazar?“ fragt Ilona Schäkel in ihrem Beitrag „Reizwolf und Herzattacke“, der die inoffiziellen originalgraphischen Zeitschriften der DDR vorstellt. Leszek Szaruga beschreibt die Symbolik der polnischen Gewerkschaftsbewegung „Solidarnosc“, Karel Srp skizziert die unabhängige Kunst in der Tschechoslowakei von 1968 bis 1989, Peter Zajac diejenige der Slowakei, und Jan Pauer stellt in kundiger Weise die Bürgerrechtsbewegung CHARTA 77 vor.

Der besondere Reiz dieser Sammlung wird durch den zweiten Teil, den Katalog, hervorgerufen. Auf farbigen Photos werden Exponate, Objekte und Dokumente präsentiert. Neben Alexander Solschenizyns legendärem „Offenen Brief an den sowjetischen Schriftstellerverband“, in welchem er zur Abschaffung der Zensur aufgerufen hatte, ist das erste Blatt eines abgetippten Exemplars von Andrej Sacharovs Memorandum „Wie ich mir die Zukunft vorstelle“ abgebildet. Des weiteren graphische Blätter, Cover von legendären Samizdat-Ausgaben, aber auch Flugblätter und Untergrund-Dokumentationen über die Zerstörung von Kirchen in Moskau. Der Titel von Václav Havels berühmtem Essay „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ lautet im tschechischen Original: „Die Macht der Ohnmächtigen“. Angesichts der vorliegenden umfassenden Dokumentation gewinnt Havels Aufruf, „in der Wahrheit zu leben“, eine konkrete, greifbare Dimension. Selbstverständlich gehörte Mut dazu, die Spielregeln der Diktaturen eigenmächtig zu durchbrechen. György Konrad weist zu Recht auf den störenden Charakter hin, den diese freien Geister auf manchen bislang Unbeteiligten gebildet hatten: „Wie können die mich in so eine Situation bringen? Entweder ruiniere ich mich jetzt oder erweise mich als feige.“ Diese Sammlung ruft den Wert des freien Wortes in das Gedächtnis zurück und beweist, daß Diktaturen letztlich bereits am Mut einzelner scheitern.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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