Eine Rezension von Christel Berger

Bloßlegen von Widersprüchen als Trauerarbeit

Eva Demski: Scheintod
Roman.
Schöffling & Co.Verlagsbuchhandlung, Frankfurt/M. 2000, 398 S.

Ich zögere zu bekennen, daß ein Buch mir Einblicke in eine für mich fremde Welt und Zeit vermittelte und dabei die Sinne geschärft und sensibilisiert hat. Autoren moderner Bücher wollen das wohl eher nicht, aber ich kann nicht anders, als Eva Demskis Roman Scheintod mit eben „altmodischen“ Begründungen zu loben. Nun erst – nach der Lektüre – habe ich eine Vorstellung, was sich unter dem Begriff „Trauerarbeit“ alles verbergen kann und was die noch immer umstrittenen „Achtundsechziger“ waren. Frau Angela Merkel empfehle ich das Buch dringend, aber auch so manchem Grünen und uns „Ossis“ sowieso.

Eine Liebesgeschichte, ein Geschichtsbuch, gar ein Frankfurter Schlüsselroman?! „Die Frau“ – so nennt Eva Demski die Protagonistin durchgehend – hat zwölf Tage Zeit, „den Tod des Juristen und den Tod des Anarchisten, den Tod des Geliebten und den Tod des Ehemanns“ zu begreifen und zu verarbeiten. Nicht vier Männer sind gestorben – es ist der eine, der außerdem noch katholisch und schwul, eitel und empfindsam, arbeitswütig, leidenschaftlich, ordentlich, verschwiegen und ... und ... war. Mit ihm zusammen hat sie die wilden Jahre der Studentenunruhen erlebt, sie waren ein bekanntes Paar unter den Rebellen, später haben sie sich getrennt, ohne sich aus den Augen zu verlieren. Wie sehr sie ihn liebte und liebt, wird ihr in den beschriebenen zwölf Tagen bewußt, angefangen am Tage seines plötzlichen Todes, endend mit dem Tag der Beerdigung, da die verschiedenen Gruppen, zu denen er gehörte, zu einer Feier versammelt sind und es zwischen ihnen keine Verständigung, keinen Frieden gibt.

Das Buch, geschrieben mehr als drei Jahrzehnte nach den wilden Jahren, spielt in den Ostertagen 1974. Das ermöglicht eine Balance zwischen Distanz und Nähe: Die Erinnerung ist fast noch frisch, nicht von Jahrzehnten überlagert oder gar verklärt. Und dennoch hat „die Frau“ Einsichten, die wohl dem Alter und der Erfahrung der heutigen Eva Demski entsprechen. So entsteht ein äußerst differenziertes Bild des Toten, das vor allem das widersprüchliche, ja eigentlich unvereinbar Scheinende in dieser Person betont und damit auch für das Phänomen der Achtundsechziger eine Erklärung gibt. Viel spätere Entwicklungen sind nur durch diese Widersprüche zu erklären, man denke nur an bestimmte Minister oder auch nur so manchen neuen Leiter, der sich uns Ossies erst privat nach einem Glas Wein als „ehemaliger Achtundsechziger“ outete, mir dadurch zwar nicht sympathischer, aber vielleicht verständlicher wird. Und auch das Scheitern der vielen Ziele und Hoffnungen sehe ich in einem neuen Licht. Aber – und darin beruht der „Sog“, der besondere Reiz des Buches – der gesamte Roman ist ein Bekenntnis zu einem der wichtigsten Erlebnisse, ja einem Grunderlebnis der „Frau“ und wohl auch der Autorin. Von der Frau erfährt man kaum etwas, was nicht zur Beziehung zum Toten gehört. Sie scheint sich nur über diese Erlebnisse zu definieren, während Eva Demski Mittel der Distanz braucht, um ihre Erregung, ihre Emotionen, ihr Involviertsein abzufedern. Warum sonst werden die Protagonisten nicht beim Namen genannt? Nur: „der Mann“, „die Frau“, „der Junge“. Damit wird Individuelles allgemeiner und zu Persönliches/Emotionales objektiviert. So wie das gesamte Buch das Entdecken von Widersprüchen beschreibt und ein leidenschaftliches, manchmal melancholisches Bekenntnis zur Kompliziertheit dieser Welt ist, handhabt Eva Demski auch die künstlerischen Mittel, dies auszudrücken, souverän.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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