Eine Rezension von Hans-Rainer John

Ein Flugdrachen als Kriegsmaschine?

Peter Dempf: Der Teufelsvogel des Salomon Idler
Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt/M. 2000, 416 S.

Es geht um den Menschheitstraum vom Fliegen. Aber Peter Dempf (41), der vor einem Jahr erst seinen Romanerstling Das Geheimnis des Hieronymus Bosch vorlegte (Berliner LeseZeichen 6/7-2000), der den Leser zum staunenden Betrachter des „Gartens der Lüste“ werden ließ, macht ihn nicht, wie zu erwarten, am Schneider von Ulm fest, sondern an einem Schuster von Augsburg.

Der eben heißt Salomon Idler, und eines Tages tritt Magister Eduard in seine Werkstatt, übergibt einen Packen Zeichnungen und fordert die Anfertigung einer Lederhülle. Eduard ist Kurier des Papstes, wir befinden uns im Dreißigjährigen Krieg, Augsburg ist von protestantischen Schweden besetzt, und die Zeichnungen betreffen ein Fluggerät, das kriegsentscheidend werden kann. Sie sind für den katholischen Bischof bestimmt, der sie an die kaiserlichen Truppen weiterleiten soll. Sie entzünden bei Idler den Traum vom Fliegen, und als Eduard von den Schweden gefaßt und grausam hingerichtet wird, behält er sie und baut und erprobt danach einen „Teufelsvogel“, der ihn von den Türmen und Mauern der Stadt hinwegträgt. Das freilich muß tief im Verborgenen geschehen, denn sowohl die Schweden als auch der katholische Bischof wie auch ein Spürhund Richelieus hecheln den Papieren hinterher. Idler muß in die Illegalität der Bettlerzunft untertauchen und sich der Solidarität der Stadtarmen versichern.

Die Vorstellung, sich den Vögeln gleich, von irdischer Schwere befreit, über den Boden zu erheben, entzündet sein Schöpfertum und spornt den einfachen Handwerker zu unwahrscheinlichen Leistungen an. Da wird das Hohelied von Ausdauer, Geduld und menschlicher Schaffenskraft gesungen. Nachdem sich der Traum schließlich erfüllt hat und Idler aus der Stadt herausgeflogen und damit seinen Häschern entkommen ist, zerstört er den Flugdrachen in der Ahnung der ihm innewohnenden mörderischen Tötungskraft, und die Zeichnungen will er erst übergeben, wenn die Erfindung im Frieden endlich dem Leben dienen kann: „Die Pfaffen werden Augen machen, wenn sie das Manuskript im Klingelbeutel finden. Aber erst am Ende des Krieges, damit es nicht in falsche Hände gerät und nachdem wir genügend Geld zusammen haben, es kopieren zu lassen. Ganz trennen werde ich mich von ihm, glaube ich, nicht.“

Dempf verfolgt damit eine schöne Grundidee, wenn auch solcherart Denken den Horizont des 17. Jahrhunderts wohl überschreitet. „Die Frage, ob wissenschaftliche Erfindungen Segen oder Fluch der Menschheit sind, kam mit wirklicher Konsequenz erst mit der Atomkraft auf.“ Er läßt hier nicht durch eine raffiniert verschachtelte Konstruktion der Handlung erstaunen wie bei Hieronymus Bosch, sondern erzählt die Geschichte schlicht hintereinander weg. Aber er kann sehr gut, sehr anschaulich, sehr spannungsreich erzählen und die Charaktere mit knappen Zügen scharf umreißen. Er versteht es vor allem, den historischen Hintergrund zu nutzen. Das Leben im damaligen Augsburg wird mit vielen Details sehr plastisch vermittelt. Der Druck einer ausbeuterischen Besatzungsmacht, die Unfähigkeit und Korruptheit der katholischen Kirche, die keine Gegenkraft aufzubauen versteht, Hunger und Not, Folter, Tod und Pest, das Zusammenrücken der Armen, die Dumpfheit der Landsknechte, die Überlebenskünste der Gauner und Beutelschneider, die kleinen Lichtblicke, für die Gaukler und karge Feste sorgen, die Auflösung bestehender Lebensnormen angesichts überall drohenden Todes - das alles wird nacherlebbar und auch geschickt zu ständig anhaltender Spannung genutzt.

Auch sprachlich ist der zweite Roman Dempfs ein Fortschritt. Der Autor bemüht sich hier mit Erfolg stärker um eine kräftige, bildhafte und poetische Ausdrucksweise. Da schütten Wolkenfetzen mit Plötzlichkeit Nacht zwischen Häuser und Hütten, Krähen regnen auf den Richtplatz hinab, Schweigen breitet sich aus wie ein Teppich, und am Morgen flutet die Sonne die Gassen mit Licht. Schlimme Sätze („Trotzdem die Gestalt ihm den Rücken zukehrte, konnte es nur der Zigeuner sein“) und gekünstelte Sprachbilder („Bleiben nicht unsere Gedanken so lange roher Lehm, solange sie nicht in unserem Mund umgeformt und im gesprochenen Wort zu Ziegeln unseres Verstandes gebacken werden, um einen Turm an Weisheit in uns aufzuschichten?“) sind nun deutlich in der Minderzahl.

Wenn man trotzdem das Gefühl, es handle sich um ein Abenteuerbuch für Heranwachsende, auch hier nicht immer los wird, so liegt das an bestimmten Vereinfachungen, einer übermoralischen Grundhaltung, die reife Menschen nicht immer mit ihrer Lebenserfahrung in Übereinstimmung bringen können, und an einigen übermäßig romantischen Reminiszenzen, die Dempf offenbar liebt.

Eigentlich ist schon der Auftakt ungenügend motiviert. Eine Lederhülle kann man bestellen, ohne die Papiere, für die sie bestimmt ist, hinterlassen zu müssen, wenn es sich schon um so wertvolle, von allen Seiten hochbegehrte Zeichnungen handelt. Vereinfacht aber ist vor allem die Sicht auf die Unterschicht der Stadt. Da sind einerseits die absolut selbstlos edlen und ständig hilfsbereiten Menschen wie der einäugige Richard, die stumme hübsche Agnes, die schöne Schlangenbeschwörerin Gesine, der profillose Windig und die einbeinige Welschge Jenna, Leute zudem mit hohem Organisationsgrad, Selbstbewußtsein und Machtanspruch. (Bettlerkönig Richard droht mal einem politischen Widersacher: „Meine Freunde werden euch zerreißen, in jeder Stadt aufspüren, wie die Bluthunde auf eurer Fährte bleiben.“) Andererseits sind da übergangslos schlimme Halunken, Gauner und Halsabschneider wie der schwarze Plack, Maer, Grätz und Iggel, Schattierungen und Übergangsformen werden vom Autor gänzlich ausgeschlossen.

In mancher Hinsicht wenig realistisch, ja übermoralisch geschildert, ist zum Beispiel Idler. Er verschont seine Feinde auch in der höchsten Not („Keiner von uns eignet sich zum Mörder. Das Geschäft sollte man denen überlassen, die nur mit dem Mund, nicht aber mit dem Herzen sprechen.“) und wehrt sich dagegen, seine schon viele Monate im Sterben liegende Frau mit der ihn begehrenden, klugen und tatkräftig helfenden Gesine zu betrügen. Das Mädchen darf ihm nur Händchen drücken, über die Wange streichen oder kurz über die Augen fahren - und das angesichts dessen, daß ringsum Tod und Verderben herrschen und das einzelne Menschenleben nicht mehr viel gilt. Aber Dempf ist von Beruf Lehrer, und als solcher setzt er seine Zeichen.

Daß Dempf durchaus realistische, widersprüchliche, glaubhafte und interessante Charaktere schaffen kann, zeigen sein Pater Konrad und sein Hauptmann Ole Stierna. Aber daneben gibt es immer wieder seine Vorliebe für dunkle, rätselhafte, romantisierte, undurchsichtige Figuren, die wenig überzeugen und nichts erhellen, wie die Hutter Babette mit dem eulenartigen Schrei und der Herr Rabenstein mit dem Teufelsmal. Babette soll durch peinliche Befragung um ihren Verstand gebracht worden sein, enthüllt aber in absoluter geistiger Klarheit seitenweise ihre sehr abenteuerliche Vergangenheit und schmiedet kuriose Pläne gegen die Schweden. Rabenstein tritt eigentlich als der Gesandte Tillys auf, wird aber in Wirklichkeit von Richelieu geschickt und taucht in wechselnder Gestalt auch als Zigeuner, Mönch, Kaufmann, Fuhrmann, Handwerker, Totengräber auf - ein willkommener Fraß schließlich für den Profos. Eine Figur kann natürlich zwielichtig changieren, aber einzuordnen nach Charakter und Interessenlage sollte sie schon sein. Daran vor allem scheint es hier zu fehlen.

Auch diesmal waren einige Einwendungen unvermeidbar, im Ganzen aber ist das Buch ein Gewinn. Der Autor muß ja nun nicht jedes Jahr mit einem neuen dickleibigen Roman aufwarten, aber weiterschreiben sollte er unbedingt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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