Eine Rezension von Bernd Heimberger

Augen-Blicke mit Amir

Friedrich Kröhnke: Murnau. Eine Fahrt.
Rimbaud Verlagsgesellschaft, Aachen 2001, 71 S.

Geschichte, heißt es, wiederholt sich nicht. Wiederholen sich Geschichten? Friedrich Kröhnke hat eine Serie von Sequenzen geschrieben, die schlichte Gemüter glauben machen könnten, er kopiere eine Lebens-Sterbe-Geschichte. Kröhnke schreibt nicht für schlichte Gemüter. Er verlangt viel von sich und den Lesern. Er wiederholt keine vorgezeichneten Geschichten. Der Autor hat seine eigenen Geschichten. Aus angenommenen Geschichten macht er eigenes. Friedrichs Kröhnkes Prosatext Murnau ist, wie Kinokundige richtig vermuten, eine an den Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau adressierte literarische Korrespondenz. Kröhnke nennt sein chronistisches Reise-Notizen-Reflektions-Stück Eine Fahrt. Gemeint ist die Fahrt mit Zug und Auto. Die Fahrt der Kamera. Die Fahrt im Kopf. Der Autor „erzählt“ von Fahrten aller Art. Fahrten eines Regisseurs und Drehbuchautors, der einen Film über den Regisseur vorbereitet. Soviel Übereinstimmendes zwischen Regisseur Murnau und Murnau-Filmregisseur auch auszumachen ist, nichts ist deckungsgleich. Folglich endet die berauschende Autofahrt des Murnau-Filmregisseurs, die er mit seinem umschmeichelten jugendlichen Darsteller macht, nicht tödlich. Murnaus Schicksals war es, in den Tod gesteuert zu werden, als er einen seiner „schönen Jungen“ ans Steuer ließ. „Ich drehe einen Film über Murnau“, sagt der Regisseur. So wie der Film kein Murnau-Film ist, ist Kröhnkes Text keine kaschierte Murnau-Biographie. Ist nicht mal die Liebesgeschichte des 38jährigen Regisseurs mit seinem 16jährigen Darsteller, dem Asiaten Amir. Gleich schnellwechselnden Bildschnitten wird in assoziativen Prosapassagen vor allem die Beziehung des Regisseurs zu sich öffentlich. Besonders intensiv wird die Beziehung des Enddreißigers zu sich durch die Beschäftigung mit dem Kollegen Murnau, der 42jährig starb. Personen, Ereignisse, Orte sind dem Murnau-Autor Anlaß, den Blick zu weiten. Das bedeutet, jenen goetheschen Blick für den Augenblick zu haben, von dem zu sagen ist: „Verweile doch ...“ Das heißt, mit der Erkenntnis von der Endlichkeit des Körpers, der Unendlichkeit des Körperlichen zu leben. Das heißt auch, sich den „Traum“ zu gestatten, im Sterben kein Alleingelassener zu sein. Das artikuliert den Wunsch, Hand in Hand in den Tod zu gehen. Im konkreten wie symbolischen Sinne. Wesentlich ist der Murnau-Text als Text zum Thema Tod. Es darf geträumt werden. Nicht von der Schönheit des Sterbens, doch vom schönen Sterben. Selten hat Friedrich Kröhnke so geträumt. 71 Seiten läßt der Autor den Regisseur von seiner Beziehung zu Amir träumen. Schönheit, Lächeln, Geschick des Jungen werden mit einem Kuß in den Nacken belohnt. 71 Seiten purer Erotik! Solche Geschichten wiederholen sich nicht häufig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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