Eine Rezension von Bernd Heimberger

Poesie pro-contra Politik

Holger Brohm: Koordinaten im Kopf. Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR in den 1960er Jahren. Fallbeispiel Lyrik.
Lukas Verlag für Kunst- und Geistesgeschichte, Berlin 2001, 292 S.

Die Schrift ist, was sie ist: eine Promotionsschrift. Ihr Thema: Gutachterwesen und Literaturkritik in der DDR in den 1960 Jahren. Fallbeispiel Lyrik. Mit dem Titel Koordinaten im Kopf versehen und als Buch publiziert, kann sich Holger Brohms Arbeit nicht anders lesen lassen als sich eine Dissertation liest. Thema wie Art der Darstellung sind nicht das, was das Buch populär machen kann. Dennoch sollte das Buch über die Grenzen germanistischer Institute hinausgelangen. Alle, die – aktiv oder passiv – beteiligt waren an der Geschichte der Literatur in der DDR, werden manche Teile der Texte mit innerer Erregung lesen.

Holger Brohm, dessen Auftrag es war, „für das begrenzte Gebiet der Lyrik der DDR in den sechziger Jahren Antworten zu finden“, ist nicht zu einer kompletten, detaillierten Darstellung der Lyrik der DDR in genannter Zeit verpflichtet. Beispiel: Der 1946 geborene Leipziger Andreas Reimann, von Lehrern wie Altersgenossen als „ Rimbaud der DDR“ gesehen, ist dem Verfasser der Schrift nur eine Randbemerkung wert. Fallbeispiel Lyrik bedeutete für Brohm, Beispiele zum Fall Lyrik in Abläufen darzustellen. Während der sechziger Jahre spielte Lyrik eine so hervorragende Rolle wie in keinem anderen Jahrzehnt der Existenz der DDR. Das, was die tatsächliche, sogenannte „Lyrikwelle“ ausmachte, ist nicht Gegenstand der Betrachtung und Beurteilung von Brohm. Der Fall der poetica popular ist nicht der Fall, den der Autor behandelt. Sein Fallbeispiel Lyrik konzentriert sich auf bestimmte, bestimmende Anlässe, Aussprachen, Anthologien und Autoren der sechziger Jahre.

Am Anfang war, gut ein Jahr nach dem Bau der Mauer und ihr nahe genug, ein Abend in der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz. Stephan Hermlin hatte zu einer folgenreichen Lesung mit Lyrikern eingeladen, die bei vielen Zuhörern noch keinen Namen hatten. Lyrik wurde zum Fallbeispiel. Die Öffentlichkeit erfuhr manches, ohne zu erfahren, warum ihr was widerfuhr. Die Lyrik-Debatte in der Studentenzeitung FORUM sowie die Kritiker-Kontroverse in der Akademiezeitschrift SINN UND FORM lieferten dem Verfasser ergiebiges Material fürs Thema, so zum Beispiel die Anthologie In diesem besseren Land oder Entwicklungen in der Lyrik von Volker Braun und Sarah Kirsch. Die Konzentration des Autors auf einzelne Ereignisse zwingt ihn immer wieder, auf die Wechselbeziehung der Ereignisse zu verweisen. Zwingt ihn, begleitende Geschehnisse zu beachten, die in den Tagen des Geschehens oft nur zu ahnen waren und nun als Archivmaterial ans Tageslicht kommen. Das berücksichtigt, ist Brohms Promotion auch als eine Pioniertat zur Literatur der DDR zu sehen. Die Masse des gesichteten Materials hat den Analytiker oft zurückgedrängt, um dem Literaturhistoriker den Vortritt zu lassen. Allen analytischen Absichten zum Trotz ist selbst die „Zusammenfassung“ eher in literaturhistorischen, denn literaturwissenschaftlichen Teilen erheblich. Neu kann nicht sein, wenn der Autor sagt, daß die Literatur in der DDR eine Stellvertreterrolle innehatte. Neu ist eher, daß Brohm darlegt, wieso das so war. Streit, der in der Politik nicht stattfand, wurde auf dem „literarischen Feld“ ausgetragen. Immer wieder spricht Holger Brohm von dem „Konfliktpotential..., das sich aus unterschiedlichen Auffassungen zum Verhältnis von Realität und Literatur ergab“. Das „Konfliktpotential“ ist des Pudels Kern der Auseinandersetzungen, die von der poetischen wie der politischen Seite geführt wurden. Der Konflikt schloß Annäherungsversuche beider Seiten nicht aus, die, nicht selten, die Vergrößerung des Abstands zur Folge hatten. Was derart allgemein, verallgemeinert formuliert ist, hat Brohm in seiner Schrift en détail nicht nur zusammengefaßt, sondern aufgeschlüsselt. Das macht Wert und Wesentlichkeit der Arbeit aus. Die wird dem Gewinn sein, der für sie die Geduld aufbringt, die Holger Brohm brauchte, um sie möglich zu machen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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