Eine Rezension von Sigrid Bock

Auf dem Weg zu einer Biographie

Christiane Zehl Romero: Anna Seghers. Eine Biographie.
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 600 S.

Anna Seghers schrieb keine Autobiographie. Drängte jeden Versuch einer Biographie zurück. Christa Wolf mußte es erfahren: „Was die biographischen Fragen anbelangt: die Erlebnisse und Anschauungen eines Schriftstellers, glaube ich, werden am allerklarsten aus seinem Werk, auch ohne spezielle Biographie. Ich fürchte, ich mache da etwas Schlimmes, weil Sie sich für das Biographische interessieren“, sagte sie ihr 1965.

Dennoch: Auf Dauer war die Neugier der Leser nicht zu übergehen. Im Ausland entstanden die ersten Arbeiten. Tamara Motylowa in Moskau und Marcel Ranicki in Warschau legten 1953 bzw. 1957 erste Überblickdarstellungen vor. In deutscher Sprache erschienen sie nicht. 1959 publizierte in Berlin Heinz Neugebauer eine Skizze, die Lehrer und Schüler der DDR in Leben und Werk einführte. Das Eis war gebrochen. Allerdings: Die Intentionen der Anna Seghers wurden ernst genommen. Friedrich Albrecht in Leipzig und Inge Diersen in Berlin rückten 1965 die Werkinterpretation in den Mittelpunkt ihrer Untersuchungen. Ihre Monographien zu den frühen Erzählungen und Romanen der Anna Seghers verbanden sie jedoch mit biographischen Kapiteln. Jörg Bernhard Bilke ging anders herum vor: Er nutzte seinen Wohn- und Studienort zu Recherchen in der Heimatstadt der Schriftstellerin. Und trug - ebenfalls zunächst für die Zeit bis 1932 - Erstaunliches zusammen. Er machte Lehrer und Klassenkameradinnen ausfindig, fragte sie nach ihren Erlebnissen mit Netty Reiling während ihrer Schul- und Studienjahre, baute von daher seine Interpretation des Frühwerks auf. (Sein Buch konnte aber erst 1977 erscheinen.)

Alle drei Unternehmungen waren Dissertationen. Wichtige Schritte auf dem Wege hin zu einer Biographie. Von da an beschäftigten sich die Autoren ein Leben lang mit Anna Seghers. Faszination einer Erzählerin, die weltbedeutend war. Weltbekannt auch. Nur in ihrer Heimat bis 1945 zu den fast Namenlosen zählte. Nicht von ungefähr entstanden die ersten Darstellungen im Ausland. Gehörte Anna Seghers doch zu jener Generation deutscher Schriftsteller, für die Deutschland von 1933 bis 1945 verbotene Zone war. Die ihr schriftstellerisches Können im Ausland entfalten mußten. Paris, Marseille, die Antillen-Inseln, Mexiko, das waren die Orte, an denen die junge Frau in ihrer Muttersprache schrieb. Erst das Ende des faschistischen Regimes ermöglichte ihr 1947 die Heimkehr - in ein Land jedoch, das durch den Kalten Krieg aufgewühlt, zweigeteilt war. Wirkung und Debatte ihres Werkes sollten durch diese Bedingungen geprägt werden. Die Abneigung der Autorin gegenüber Fragen zu ihrem Lebenswerk vertiefte sich. Schwierigkeiten einer Biographie waren vorgezeichnet.

Dennoch: Seit Mitte der sechziger Jahre erschienen zahlreiche Einzelinterpretationen, Materialien- und Autorenbücher, zeitlich oder thematisch begrenzte Studien, Editionen auch der publizistischen Schriften seit 1927. Zuerst in der DDR, wo die Autorin bis zu ihrem Tode 1983 lebte. Später auch in der BRD, wo man bis dahin über Werk und Persönlichkeit lieber zu schweigen suchte. Alle Arbeiten waren immer bemüht, mit dem Werk zugleich dem Leben auf die Spur zu kommen. Auch im Ausland: In England und Italien legten W. F. Tulasiewicz (1970) und Elda Tapparelli (1974) Studien vor.

1973 wagte Kurt Batt einen Kompromiß: Für den Reclam-Verlag in Leipzig schrieb er ein Buch über „Entwicklung und Werk“ der Schriftstellerin, in dem er alle bislang vorgelegten Einzelauskünfte zusammenfaßte und seine Betrachtung zu einer Gesamtschau der Jahre 1900 bis 1971 ausdehnte. Der Versuch gefiel Anna Seghers. Kam ihren Vorstellungen am nächsten. Doch als sie Korrekturen vorschlagen, mit dem Autor zusammen weiterarbeiten wollte, verstarb Kurt Batt unerwartet.

Die Beschäftigung mit dem Leben der Anna Seghers brach damit nicht ab. Denn inzwischen hatte die „Exilforschung“ eingesetzt. Anstöße dazu waren seit dem Ende der sechziger Jahre aus dem Ausland gekommen, aus Schweden. Mit der Exilforschung einher gingen kritische Auseinandersetzungen mit der Germanistik an westdeutschen Universitäten. Sie veränderten die Forschungslandschaft: Nicht das autonome Kunstwerk - die Bedingungen literarischen Schaffens interessierten jetzt, die Zusammenhänge zwischen künstlerischer Arbeit und sozialen, politischen, den gesellschaftlichen Voraussetzungen dazu. In beiden deutschen Staaten rückte die Geschichte der Jahre 1933 bis 1945 ins Zentrum der Aufmerksamkeit - auch der Literaturwissenschaft. Die Einzelstudien, Materialien- und Autorenbücher in der BRD, die das Schweigen über Anna Seghers brachen, verdankten der Exilforschung Anregungen. Ihre Autoren mißachteten verbreitete Vorurteile. Erika Haas (1975), Peter Roos und Friederike J. Hassauer-Roos (1977), Klaus Sauer (1978), Werner Roggausch (1979) und Christa Degemann (1985) beispielsweise wandten sich mit neuem Blick der Erzählerin zu, fanden wichtige Einzelheiten auch ihres Lebens heraus. Die allgemeine Exilforschung (Hans Albert Walter ab 1972) und Spezialstudien zum Exil in Frankreich und zum Exil in Mexiko (Dieter Schiller 1981, Albert Betz 1986 und Wolfgang Kießling 1974, Fritz Pohle 1986) bereicherten das Wissen auch um Leben und Werk der Anna Seghers. So daß 1990 eine paradoxe Situation eintreten konnte: Mit den Auseinandersetzungen um das Ende der DDR begann eine neue Welle der Verleumdung der Anna Seghers. Denn diesem Staat, als ihrer Meinung nach einzige Alternative zu Faschismus und Krieg, hatte sie niemals ihre Unterstützung versagt, obwohl sie von vielen Fehlentwicklungen wußte, öffentlich aber darüber schwieg. Versucht wurde - wie Stephan Hermlin anläßlich ihres 90. Geburtstages sagte -, „das grandiose Werk, das 1933 auf deutsche Scheiterhaufen kam, noch einmal (zu) verbrennen“. Die internationale Exilforschung widersetzte sich den Anfeindungen. Erhielt Aufschwung. Wichtige Arbeiten entstanden, das Buch von Alexander Stephan aus Gainsville/Florida: Anna Seghers im Exil (1993) z. B.

Mit neuem Elan bemühte man sich um eine Biographie. Vor allem: Die Lebensbeschreibung blieb keine deutsche Angelegenheit. 1992 legte Ute Brandes mit Unterstützung des „Amherst College“ in den USA ihre Skizze Anna Seghers vor (Colloquium Verlag Berlin). Ein Jahr darauf veröffentlichte in der Reihe der Rowohlt Monographien (Reinbeck bei Hamburg) Christiane Zehl Romero von der Tifts University in Massachusetts ihre kurze Überblickdarstellung „Anna Seghers“. 1994 brachten Frank Wagner, Ursula Emmerich, ehemals Lektorin der Anna Seghers und Ruth Radványi, die Tochter der Schriftstellerin, im Aufbau-Verlag das Buch heraus Anna Seghers: Eine Biographie in Bildern. An einem Wendepunkt deutscher Geschichte konnte der Versuch, vom Leben der Anna Seghers zu erzählen, in eine neue Phase der Entwicklung eintreten.

Kein Wunder, daß zum 100. Geburtstag der Autorin, siebzehn Jahre nach ihrem Tode, der Aufbau-Verlag - heute der einzige Verleger ihres Werkes in Deutschland - Kurs auf eine ausführliche Biographie nahm. Christiane Zehl Romero, an ihre erste Darstellung von 1993 anknüpfend, schrieb Anna Seghers. Eine Biographie. Allerdings: Erst den ersten Teil: 1900 bis 1947. Der zweite Teil über das Wirken der Autorin in ihrer Wahlheimat DDR soll 2002 erscheinen.

Der Vorteil der Autorin diesmal: Die Kinder der Anna Seghers, Pierre und Ruth Radványi, unterstützten ihre Bemühungen, stellten bislang nicht veröffentlichtes Material zur Verfügung. Diese Zusammenarbeit ist deshalb so wertvoll, weil Anna Seghers selbst alles tat, um Spuren ihres Lebens zu verwischen, allzu Neugierige sogar bewußt in die Irre zu führen. (Warum sie das tat, muß ein Biograph herauszufinden suchen.) Nur wenige Dokumente ihres Lebens sind erhalten geblieben oder bislang aufgefunden worden. Kein Wunder: Nur Kindheit und Jugend verlebte Anna Seghers (damals noch Netty Reiling) bis zu ihrer Eheschließung im August 1925 bei den Eltern in Mainz; nur drei Studienjahre in Heidelberg und eines in Köln unterbrachen dieses „Aufgehobensein“ in einer sicheren Heimat. Danach jedoch begann ein unruhiges Wanderleben, war sie ständig unterwegs, nur für wenige Jahre an einem Ort „zu Hause“. Erst in ihrer letzten Lebensetappe sollte Anna Seghers etwas Ruhe, etwas Dauer in ihr Dasein bringen: 1955 bezog sie in Berlin-Adlershof eine Wohnung, die bis zu ihrem Tode 1983 - etwas mehr als ein Vierteljahrhundert - zur „festen Bleibe“ wurde. Zum erstenmal seit Kindheit und Jugend hatte sie wieder ein Heim, das sie nur verließ, um zu reisen. Von dem sie wußte: Sie konnte zurückkehren, wann immer sie wollte.

In 14 Kapiteln, die zumeist chronologisch angelegt sind, verfolgt C. Z. R. den Weg der Autorin bis zu ihrer Rückkehr aus dem Exil 1947. Sie ist bestrebt, „Leben, Werk und Zeit aufeinander zu beziehen, weil“, wie sie im Vorwort schreibt, „mir das bei Seghers besonders wichtig erscheint“ (S. 8). Das erste Kapitel beschäftigt sich vorrangig mit den Familien von Vater und Mutter. Zwei Dinge werden hervorgehoben: der Reichtum und die innige Bindung an die orthodox-jüdische Religion. Sowohl die Familie der Mutter, die Fulds in Frankfurt am Main, als auch die Familie des Vaters, die Reilings in Mainz, waren erfolgreiche Kaufleute, Antiquitätenhändler. Und sie hielten fest an der Religion der Väter, pflegten jüdische Gesetze, Traditionen, Feste, verweigerten sich den religiösen Reformbestrebungen. In Frankfurt wie in Mainz gehörten sie den orthodoxen jüdischen Gemeinden an. „Die Generation von Seghers' Eltern zählte zu den arrivierten Juden der Zeit in Deutschland, die ihrem Glauben und seinen Bräuchen treu blieben, sich sonst aber kulturell assimilierten“, schreibt C. Z. R. „Seghers wuchs in einem in vieler Hinsicht reichen Familienmilieu auf, reich an interessanten Menschen, an Wärme, an Traditionen, an Kultur und an Geld [...]. Erfolg und materieller Wohlstand, ja Reichtum (waren) beinahe selbstverständlich und dementsprechend wichtig“ (S. 46). Dieses Bild trifft zu, betrachtet man nur Eltern oder Großeltern. Das Bild ändert sich, geht man weiter in die Geschichte zurück. Dann wird wahr, was Anna Seghers selbst vermutete, C. Z. R. aber nicht akzeptieren will: daß die Vorfahren „halb Hausierer oder halb Kaufleute waren“ (S. 13). (So skeptisch gegenüber den wenigen Selbstäußerungen der Autorin, wie C. Z. R., sollte man nicht sein.) Vor allem in Frankfurt gehörten die Familienmitglieder seit Mitte des 19. Jahrhunderts zum „Altfrankfurter Patriziat“ (Frankfurter Zeitung und Handelsblatt); sie waren als Juden ins Großbürgertum integriert, nicht aber assimiliert. Aber auch sie mußten erst einmal vom armen und mißachteten Ghettojuden zum anerkannten Bürger aufsteigen. Noch deutlicher zeigt sich dieser schwere Weg in Mainz. Der Großvater der Anna Seghers, David Reiling, kam erst 1859 nach Mainz; er war wie Eltern und Großeltern noch als „Gängler“ (wandernder Krämer) tätig, ehe er in Mainz die „Trödlerin“ Esther Jeannette Schmalkalden ehelichte. Erst Davids und Esthers Söhne Hermann und Isidor, der Vater der Anna Seghers, werden es als „Antiquitätenhändler“ zu einigem Wohlstand gebracht haben. Diese Differenzierung der Familiengeschichte scheint mir deshalb wichtig, weil Anna Seghers sie zumindest in Bruchstücken gekannt oder geahnt und im Gedächtnis bewahrt haben muß. Daß Wert auf Familiengeschichte gelegt wurde, zeigt die Eintragung in das Gebetbuch, welches Isidor Reiling seiner Tochter zur Hochzeit schenkte. Vielleicht auch schwingt im Wissen oder Ahnen von dieser Herkunft etwas mit bei den späteren Entscheidungen der Anna Seghers, sich von den Familien zu lösen, ohne mit ihnen zu brechen (wie es am radikalsten wohl Johannes R. Becher tat). Mehrere Kapitel widmet C. Z. R. der Kindheit und Jugend in Mainz und dem Studium in Heidelberg (merkwürdigerweise findet das Jahr in Köln nur kurze Erwähnung). Ausführlich beschrieben werden das Leben im Hause Reiling, die Bibliothek der Autorin, ihre Heimatverbundenheit, die Studien und Freundschaften in Heidelberg. Diese Kapitel gewinnen ihre Spannung durch bislang unveröffentlichtes Material. Texte Netty Reilings wurden erst während der Arbeit an der Biographie von Pierre Radványi in Paris aufgefunden, Bleistiftzeichnungen des Freundes Ladislaus Radványi erstmals zur Verfügung gestellt.

Anna Seghers selbst hat einmal von einer „Seminararbeit über die Entstehung des Porträts“ (S. 134) gesprochen. Jetzt liegt ein solcher Text vor, rund zwanzig Seiten umfassend, die Einleitung „Römische Soldatengräber im Rheingebiet“ und ein Kapitel „Anfang und Entwicklung der frühromanischen Grabplastik“. Untersucht werden deutsche Grabskulpturen aus der römischen und frühmittelalterlichen Zeit (S. 134 ff.). In ihrer Interpretation dieser Arbeiten weist C. Z. R. auf die inhaltliche Nähe zum späteren Briefwechsel mit Georg Lukács: Schon damals machte sich die Studentin mit einem Gedanken vertraut, der ihr eigenes Schaffen inspirieren sollte. Sie verstand, daß der historische Entwicklungsprozeß der Kunst nicht allein durch Kontinuität bestimmt wird. Auch „jähe Stilbrüche“, „sonderbare Mischformen“ und „Experimente“ gehören dazu. Was so oft das Leben der Netty Reiling charakterisieren sollte, zeigte sich hier: Historisches Wissen gab ihr Vertrauen in die eigene Kraft; auch sie scheute sich nicht vor literarischen Experimenten.

Zu den aufgefundenen Texten gehört ein Tagebuch, das Netty Reiling vom November 1924 bis Sommer 1925 führte. Mit großer Einfühlsamkeit und Behutsamkeit wird es von C. Z. R. beschrieben. Und: Sie kann eine Lücke schließen. Jetzt zeigt sich, daß Netty Reiling nach der erfolgreichen Verteidigung ihrer Dissertation am 4. November 1924 von Heidelberg nach Mainz ins Elternhaus zurückkehrte. Jetzt schien es wirklich so, als hätte die Tochter gutbetuchter Eltern nur studiert, um die Zeit zwischen Schulabschluß und Eheschließung standesgemäß zu überbrücken. Eine berufliche Tätigkeit - als Gymnasiallehrerin oder, was nahelag und vom Vater sicherlich erhofft worden war, als Mitarbeiterin im Familienunternehmen - nahm die promovierte Kunsthistorikerin nicht auf. Statt dessen: Reisen (im Dezember 1924 u. a. mit den Eltern nach Paris), Besuche bei Freunden, Sozialarbeit, wie sie es von der Mutter gelernt hatte. Tatsächlich wurde auf die Heirat im August 1925 „gewartet“. Und doch begann danach kein Leben, wie es die Mutter geführt hatte.

Exakte Auskünfte über dieses „Wartejahr“ gibt das Tagebuch. Es zeigt: Netty Reiling war in ihrer Studentenzeit zu einer nicht materiell, aber geistig selbständigen Persönlichkeit herangereift, hatte einen eigenen Lebensplan ausgebildet, den sie jetzt - zögernd zwar und nicht ohne Schmerzen - gegen den Widerstand der Eltern durchzufechten suchte. Was Jörg Bernhard Bilke einst nur durch den Bericht einer Schulfreundin vermutete, wird jetzt Gewißheit: Die Eltern lehnten den von der Tochter zum Lebensgefährten ausgewählten Ladislaus Radvány ab, drängten zum Bruch mit ihm. Netty setzte sich durch: Am 4. Mai 1925 wurde die Verlobung öffentlich bekanntgegeben. Der zweite Streitpunkt betraf die Tätigkeit Nettys. Deutlich wird: Die gleichzeitig mit der Dissertation entstandene und Weihnachten 1924 in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlichte Erzählung Die Toten von der Insel Djal war kein Zufallstreffer, sondern Produkt ernsthafter Arbeit und Lebensentscheidung. Netty Reiling hatte sich während ihres letzten Studienjahres endgültig entschlossen, das zu tun, was sie schon während der Schulzeit versucht, wahrscheinlich heimlich gewünscht, den Eltern zuliebe lange Zeit aber verdrängt hatte: zu schreiben, zu erzählen. Eine Ehe mit Ladislaus Radványi, das schienen beide vereinbart zu haben, sollte sie daran nicht hindern. Angestrebt wurde eine „moderne“ Ehe, eine Gemeinschaft selbständiger Partner. (Die von Anna Seghers verehrte Alexandra Kollontai, deren Buch Wege der Liebe 1925 im Malik Verlag in Berlin erschien, bestärkte und befestigte Anna Seghers in dieser Auffassung.) Zu Hause in Mainz versuchte sie, sich einem strengen Tagesablauf mit systematischer literarischer Tätigkeit zu unterwerfen. Sie scheiterte immer wieder, mußte erfahren, daß die Eltern, die früher die Schülerin in ihrem Tun unterstützt hatten, das Schreiben nicht als ernsthafte Arbeit akzeptieren wollten. Dennoch entstand nach der Sage von den „Toten auf der Insel Djal“ bis Ende 1924 der zweite literarische Text. Diesmal eine Legende von der Reue des Bischofs Jehan d'Aigremont von St. Anne in Rouen, 1999 aufgefunden. Die Arbeit stieß schon damals auf den Widerspruch des künftigen Ehemanns, blieb wohl deshalb unveröffentlicht. Entgegen ihrer Gewohnheit jedoch vernichtete Anna Seghers das Typoskript nicht, sie bewahrte es auf. Trotz der Kritik muß es ihr lieb und teuer gewesen sein.

Bei der Analyse der Legende mit der zentralen Gestalt des Bischofs - wie der Pfarrer Jan Seghers der Sage eine Außenseiterfigur - kommt C. Z. R. zu einer Schlußfolgerung, mit der sie nicht allein die frühen Erfahrungen Netty Reilings zusammenfaßt. Sie verweist auf eine Besonderheit, die immer wieder im Werk der Schriftstellerin auftauchen sollte: Versteckt in der Rolle eines Mannes, wurde Biographisches literarisch bewältigt. Sie schreibt: „Die Problematik der ungewöhnlichen Einzelnen, die sich nach dem Eintauchen in eine Gemeinschaft sehnt und doch, um ihr Schicksal zu erfüllen, immer wieder allein sein muß und wird, gehörte zu den Grunderfahrungen der begabten jungen Frau, die sie allerdings auf Männer projiziert“ (S. 187).

Die dritte wichtige Auskunft der Tagebuchblätter: Noch nach ihrer Promotion bemühte Netty Reiling sich um Frömmigkeit. Im Anruf Gottes suchte sie Rat und Hilfe für die komplizierten Auseinandersetzungen dieser Monate. Auch das korrigiert Selbstauskünfte der Autorin und frühere Darstellungen, in denen ihre Entwicklung zur Kommunistin verkürzt und vereinfacht beschrieben wurde. „Herr, hilf. Hilf einmal unverdient“, hieß es am 11. 12. 1924. Am 25. 3. 1925: „Gott mach, daß ich dich sehe. Wenn ich dich sehen würde, gäbe es keine Furcht mehr. Niemals ist das Rechte leicht. Ich will nicht verzweifeln. Gott soll mir helfen“, notierte sie am 15. April 1925. Ihre Aufschreie sind mehr angestrengter Versuch, denn innige Gläubigkeit. Die Zweifel sind wach und bohren: „Und immer gleich das Gefühl, daß mit d. Freude Gott entfernt“, schrieb sie am 18. 1. 1925 (S. 173). Dennoch sind die Notate bislang einzig authentischer Ausdruck dafür, daß Netty Reiling als Erwachsene Rat und Hilfe suchte, wie sie es als Kind gelernt und praktiziert hatte. Sie war aufgewachsen im Vertrauen auf Gott, hatte wie die Eltern den Glauben der Väter verinnerlicht. Das Gedächtnis der Tochter Ruth Radványi trog sicherlich nicht, wenn sie 1992 von ihrer Mutter berichtete: „Mit liebevoller Sehnsucht erzählte sie von jüdischen Festen“ (Bild-Biographie 22).

Um so mühseliger gestaltete sich der Abschied. Eingeleitet aber war er. Der Vater ahnte es. Die Verbindung mit Ladislaus Radványi wird diese Entwicklung forciert haben. Vielleicht lag hier ein Grund für seine Ablehnung. Nicht zufällig gab Isidor Reiling seiner Tochter ein jüdisches Gebetbuch als Hochzeitsgeschenk mit auf den Weg. Jahre später, in ihrer Erzählung Post ins gelobte Land von 1944, gestaltete Anna Seghers in der Figur des jungen Levi, was sie einst selbst durchlebte. Sie zeigte zugleich, wie sie sich den Übergang zu einer neuen Weltanschauung gewünscht haben mochte: Die neuen Gedanken, „von denen sich sein Vater nie hatte träumen lassen“, erzählt sie, „quälten ihn nicht; sie legten sich über die alten Gedanken, wie sich zwei Rinden übereinander um einen jungen Baum legen“ (Erzählungen 1926-1944, S. 308).

Netty Reiling dagegen quälte sich. Wohl deshalb zog sich der formale Austritt aus der Kirche bis 1932 hin (S. 221). Da aber war sie schon vier Jahre lang Mitglied der KPD. Die Kenntnis des Tagebuches, das Wissen um das qualvolle Herauswühlen Netty Reilings aus religiösen Bindungen verleitete meiner Meinung nach C. Z. R. dazu, den Abschied nicht ernst zu nehmen. Ihre gesamte biographische Darstellung ist eingefärbt von dem Versuch, das Religiöse als ein Grundelement geistiger Haltung der Anna Seghers zu bewahren. Auch die Entscheidung für den Kommunismus damit zu erklären und abzuschwächen. Zu entschuldigen gar.

„Sie gab die Heilserwartung ihres Glaubens im Grunde nie auf, wohl aber die Exklusivität des jüdischen Heilsanspruchs, der nur für das auserwählte Volk galt“, schreibt sie (S. 140 f.). Anna Seghers erwartete zwar „alles vom menschlichen Handeln“, scheint „trotzdem aber eine höhere Kraft vorauszusetzen“ (S. 164). Selbst der Aneignung des Marxismus wird eine religiöse Komponente zugemessen. C. Z. R. zitiert aus einem Aufsatz, den Anna Seghers 1944 in Mexiko über Tolstoi und Dostojewski schrieb: „Viele Menschen haben sich von den religiösen Bindungen gelöst, nicht weil sie ihre ethischen Forderungen für ungültig erklärten, sondern weil sie sich an neue, der Epoche erwachsene erweiterte ethische Forderungen gebunden fühlten.„ Sie bewertet diesen Satz zusammenfassend: „Das traf auf sie selbst zu.“ Fährt dann aber fort: „Doch stellt sich die Frage, ob sie in ihren Werken“ an „religiösen Bildern und Paradigmen festhielt, weil [...] es ihr im Grunde weiterhin um religiöse Bindungen ging“ (S. 104). „Nichtreligiöse Bindungen“ - auch diesen Begriff benutzt Anna Seghers in dem zitierten Aufsatz mit Bezug auf sich selbst - scheinen für C. Z. R. nicht möglich zu sein. Damit vereinfacht auch sie weiterhin den geistigen Entwicklungsprozeß der Anna Seghers.

Ich sehe keinen Rest von der auf Gott gerichteten „Heilserwartung“ im Werk der Anna Seghers. Die „Kraft der Schwachen“ meint die Kraft des Menschen. Ohne Wenn und Aber. Als Anna Seghers 1928 in die KPD eintrat, hatte sich etwas Neues, Selbständiges ausgebildet. Eine „zweite Rinde“. Anna Seghers hoffte nicht mehr auf Erlösung aus Gottes Hand. Hatte die Sache des Menschen zur Menschensache gemacht. Ohne die Wurzeln aus dem Boden zu reißen, auf dem auch sie stand. Warum diese neue Qualität im Denken der Anna Seghers nicht anerkennen? Daß damit auch für diese Schriftstellerin sich der Weg geöffnet hatte für zahlreiche Irrtümer und Fehler, ändert an dieser Lebensentscheidung nichts. Die Überbewertung des Religiösen scheint mit einer weniger gepflegten Seite der Biographie zusammenzuhängen. Das Buch lebt von der Fülle der Fakten. In keiner anderen Darstellung bislang konnten Fakten so gebündelt vorgetragen werden. Die Arbeit mit den Fakten jedoch, ihre inhaltliche Auswertung, kommen zu kurz. Die unzähligen Mosaiksteinchen fügen sich noch nicht zu einem ganzheitlichen Bild.

Von Hermann Wendel z. B., den C. Z. R. schon im ersten Kapitel „abhandelt“, zählt sie nur Daten auf. Sie erwähnt, daß „bei ihm Wurzeln für Ideen und Interessen zu suchen seien“, die für Anna Seghers „wichtig blieben“ (S. 30), daß er ihr „viel zu bieten“ hatte, nicht zuletzt die frühe Begegnung mit sozialistischen Ideen (S. 32). Eine genaue Erklärung der Ideen und Interessen erhält der Leser nicht. C. Z. R. fragt nicht, wer der zupackende Sozialdemokrat war, der 1910 den Kopenhagener Friedenskongreß der II. Internationale „Parlament der Weltrevolution“ und im Februar 1910 die Bolschewiki in Rußland „Kämpfer für die Verjüngung und Erneuerung der Menschheit“ genannt hatte. Nicht herausgearbeitet wird, welchen Einfluß Hermann Wendel, der schon mit der Großmutter Netty Reilings befreundet war und 1928 der Mutter Nettys sein Buch Kämpfer und Künder widmete, auf die Familien der Fulds und Reilings ausübte.

Ähnlich unkonkret ist die Darstellung bei Emil Lederer und Philipp Schaeffer, die beide während der Heidelberger Studienjahre Netty Reilings Entwicklung prägten. Auch hier nur Aufzählungen und Andeutungen. „Sie interessierte sich also von Anfang ihres Studiums an ernsthaft für soziale Fragen und marxistische Ideen, was heißen muß, daß sie ihre Wißbegierde bereits an die Universität mitbrachte“ (S. 128). C. Z. R. fragt nicht, ob Hermann Wendel, Lederer durch Partei und Publikationsorgane verbunden, Netty den Tip gegeben hatte, Lederers Vorlesungen zu besuchen. Es interessiert sie auch nicht, worüber Lederer gesprochen haben könnte. Seine Vorlesungstexte sind nicht erhalten. Aber in seinen Publikationen von 1919 bis 1921 ist nachzulesen, welche Auffassungen er in jenen Jahren vertrat. Als einer der wenigen deutschen Professoren verfolgte Lederer leidenschaftlich und voller Hoffnung die Vorgänge der Revolutionen in Europa seit 1917; er verglich sie mit den Vorgängen in Frankreich seit 1789 und vermochte es, seinen Hörern, darunter Netty Reiling, Ereignisse, die sie selbst erlebt hatten - Weltkrieg, französische Besetzung der Heimatstadt, revolutionäre Nachkriegskrise z. B. - in ihrer welthistorischen Bedeutung zu erklären. Als Mitglied der Sozialisierungskommission 1919 glaubte er an die Idee des Sozialismus und an die Kraft des Menschen, sie durchzusetzen. Verständlich, daß Netty Reiling am 28. Februar 1925 in ihr Tagebuch schreibt: „Ebert gestorben. Traurig“ (S. 179).

Bei Nachforschungen über Philipp Schaeffer hätte auffallen müssen, daß er mehr war als ein „wichtiger“ oder „lieber“ Freund: Dieser junge Gelehrte, der sich für vergleichende Sprachstudien, fernöstliche Religionen und Philosophien interessierte und Arbeiten zur Geschichte des Buddhismus veröffentlichte (schon 1924!), war nicht allein Mentor bei sinologischen Studien. Er begleitete Netty Reiling auch in Vorlesungen über Buddhismus und indische Philosophie, bei Überlegungen zur vergleichenden Religionsgeschichte also. Nettys erwachende Zweifel an ihrer religiösen Haltung wurden flankiert von dem Versuch, sich mit anderen Religionen zumindest bekannt zu machen, sie in ihrem historischen Werden zu begreifen. Das Bemühen um marxistisches Denken, Sozialpolitik, soziale Bewegungen ordnete sich diesen Studien bei. Geschichte, Soziologie, Philosophie waren Schwerpunkte ihrer intellektuellen Beschäftigung in Heidelberg und Köln. Sie spielte nicht, arbeitete. Mühte sich um ein wissenschaftlich fundiertes Welt- und Geschichtsbild. Langsam, stockend, aber begründet, stieg es aus der Krise auf. Mögen während langer Jahre noch „zwei Seelen“ auch in Nettys Brust gewohnt haben. Noch vor 1933 entschied sie sich. Konsequent.

Ein Biograph kann nicht allen Männern und Frauen, die im Leben seines Protagonisten eine Rolle spielten, größere Aufmerksamkeit schenken. Bei Menschen, die an einem Wendepunkt stehen, muß er es. Das trifft auch auf prägende politische Ereignisse zu.

Die den Berliner Jahren und dem Exil in Frankreich und in Mexiko gewidmeten Teile der Biographie wirken blasser als die ersten sieben Kapitel. Sie sind im Detail interessant, vor allem dort, wo Beobachtungen zum Dasein einer Frau, Mutter und Schriftstellerin vorgetragen, literarische Texte mit der realen Existenz der Autorin verglichen werden. Aber die Kapitel sind zu wenig strukturiert, nach Schwerpunkten gegliedert. Die Details werden wie in einer Chronik aneinandergereiht, verlieren sich in der Fülle, Wiederholungen treten auf. Auch die Interpretationen literarischer Texte - alle schriftlichen Äußerungen der Berliner Jahre z. B. werden genannt - folgen dem Prinzip ihrer Entstehung, werden nicht nach inhaltlichen Problemen geordnet. Der Charakter einer - diesmal allerdings umfangreichen - Überblicksdarstellung beginnt die Biographie zu prägen. (Eine Aufzählung von Schriftstellernamen, wie sie auf den Seiten 231 bis 237 erfolgt, hätte kein Lektor akzeptieren dürfen.)

Auch Überblicksdarstellungen haben ihre Berechtigung. Die an vielen Orten verstreut aufzufindenden Einzelinformationen müssen einmal zwischen zwei Buchdeckeln gesammelt festgehalten werden. Aber das Gesicht der Anna Seghers tritt damit nicht klarer aus dem Dunkel ihres Schweigens hervor. Vor allem: Viele Entscheidungen und Verhaltensweisen nach 1947, viel Problematisches ihres Lebens haben ihre Ursprünge in den Berliner Erfahrungen seit 1925, in der Zeit faschistischer Herrschaft und des Exils. Die Erklärung des einen ist schwer möglich ohne die Erklärung des anderen.

Die Themen Kommunismus und Partei beispielsweise werden immer wieder und unter wechselnden Aspekten erwähnt. (Ein Anliegen von C. Z. R. zu erklären, warum ein Mensch solcher Herkunft und Erziehung wie Netty Reiling sich dem Kommunismus zuwenden konnte.) Aber alle Ansätze, grundsätzlich und zusammenfassend die Entscheidung der Anna Seghers zu durchdenken, zu fragen, welche Konsequenzen für ihre literarische Arbeit damit verbunden waren, verlieren sich allzu schnell (S. 221 ff.). Nachdem Anna Seghers sich „immer mehr von den Traditionen ihres Elternhauses und dem jüdischen Glauben gelöst hatte“, brauchte sie „eine neue zukunftsorientierte Bindung“, schreibt C. Z. R. (S. 221). In ihren Reflexionen jedoch reißt sie Bindung und Zukunftsorientierung auseinander, konzentriert sich allein auf Bindungen. Die neuen „Gefährten“ waren wichtig für Anna Seghers. Noch zufällig wählten sie im Exil den Begriff der „Familie“ zum Tarnwort für „kommunistische Partei“: Sie brauchten, vertrauten einander. Entscheidender und übergeordnet war die gemeinsame Zielvorstellung. Nur durch den Zusammenschluß in einer kommunistischen Partei meinten sie den seit Jahrhunderten in vielen Religionen artikulierten Traum von einem besseren, von Gerechtigkeit durchdrungenen Leben endlich auch verwirklichen, das Himmelreich auf Erden schon errichten zu können. „Bindung“ in einer Partei zu diesem Zweck. Eine solche Auffassung veränderte die künstlerische Arbeit von Grund auf. Schreiben als Akt der Selbstverständigung blieb bis zum letzten Federstrich ein Antrieb für das Erzählen auch der Anna Seghers. Hinzu kam Schreiben als gesellschaftliche Praxis. Nicht allein Anna Seghers mußte das erst lernen. Für alle, die daran beteiligt waren, war es eine unbekannte Aufgabe. Neuland. Erzählen auch bei Anna Seghers als praktische Mitarbeit am Versuch, die Erde etwas wohnlicher einzurichten. Die Erzählung Die Wellblechhütte (1929) verrät etwas von ihren Schwierigkeiten dabei.

Die dem Exil gewidmeten Kapitel 10 bis 14 bestechen durch ihren Faktenreichtum. Sie leiden darunter, daß nach dem Prinzip der Reihung verfahren wurde. Nach 1990, als bislang unzugängliche Archive geöffnet, viele unbekannte Dokumente aufgefunden wurden, entstanden ausgezeichnete Arbeiten zum Exil in Frankreich, den USA, Mexiko. Sie geben ein weitaus genaueres und differenzierteres Bild von den Ereignissen 1933 bis 1945/47, schließen Lücken, korrigieren Auffassungen vergangener Jahre - berichten auch von Anna Seghers. Die Arbeit des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller in Paris, der - scheiternde - Versuch der Anna Seghers, einmal als „Funktionär“ aufzutreten, die komplizierten Beziehungen zwischen Exilland und Moskau, die Überwachung der Anna Seghers durch amerikanische Geheimdienste (das FBI) seit Anfang der vierziger Jahre, die politischen Auseinandersetzungen in Mexiko werden beschrieben, literarische Texte und Briefe rekonstruiert und erschlossen (z. T. aus den Spitzelberichten vom FBI). C. Z. R. nimmt viel des dort aufbereiteten Materials in ihre Biographie auf, ordnet es jedoch keinen größeren Zusammenhängen zu. Auch die Chance der Kapitelüberschriften wird oftmals vertan. Das 10. Kapitel z. B. verspricht mit dem Titel „Auf baldige Heimkehr hoffend“ eine Auseinandersetzung mit den Fehleinschätzungen zu Beginn des Exils über die Dauer faschistischer Herrschaft. Tatsächlich jedoch findet sich hier alles versammelt, was über Lebens- und Arbeitsbedingungen in Frankreich bis zur Flucht nach Übersee bekannt ist. Das Buch endet etwas unmotiviert mit ersten Äußerungen über den Roman Die Toten bleiben jung und darüber, was Anna Seghers von Deutschland erwartete, sie zur Rückkehr bewegte. Die sich lange hinauszögernde abenteuerliche Heimreise wird nicht mehr beschrieben.

Eine letzte Bemerkung gilt der Erzählung Jans muß sterben. Sie gehört zu den 1999 aufgefundenen Texten aus dem Nachlaß. Zum 100. Geburtstag der Anna Seghers gaben ihre Kinder das Typoskript zum Druck frei (Aufbau-Verlag 2000). Im Tagebuch der Autorin findet sich eine Eintragung unter dem Datum „Donnerstag, 26. Mai“ - eine Angabe des Jahres erfolgte nicht: „Heute ist ein ganz schlechter Tag. Freudlos und einsam und Gott weit weg. Wie wird’s die Feiertage gehen? Ich arbeite und Jans muß sterben.“ Ohne zu zweifeln, geht C. Z. R. davon aus, daß nur das Jahr 1925 gemeint sein kann, das Tagebuch mit dieser Notiz abgeschlossen wird. Sie ist der Auffassung, daß die Erzählung 1925 entstand und die „Übergangszeit“ im Elternhaus in Mainz und die frühen literarischen Versuche beendete. „Sicher ist, daß Jans muß sterben in Mainz begonnen wurde“, schreibt sie im Nachwort der Buchausgabe (S. 74). Im Jahr 1925 aber war der 26. Mai ein Dienstag. Erst im Jahre 1927 war der 26. Mai ein Donnerstag.

Wer den Umgang der Anna Seghers mit ihren Schreibheften kennt, weiß, daß sie Hefte von vorn nach hinten und von hinten nach vorn vollzuschreiben pflegte; freie Seiten nutzte sie auch zu späteren Terminen für Eintragungen. Ganz sicher sein darf man sich nicht, ob Anna Seghers an Jans muß sterben schon vor ihrer Eheschließung gearbeitet hat. Siedelt man die Fertigstellung nach dem 16. Mai 1927 an, würde das aufgefundene Typoskript nach den Erfahrungen von zwei Ehejahren und - noch wichtiger - nach der Veröffentlichung der Erzählung Grubetsch im März 1927 angefertigt worden sein: Inhaltlich und biographisch bekäme Jans muß sterben neuen Sinn ...

Das Prüfen, Fragen, Nachdenken kann also weitergehen. C. Z. R. wußte das. Im „Vorwort“ ihrer Biographie schrieb sie: Werk und Leben der Anna Seghers „sind offen und sollen es nach diesem ersten Versuch einer längeren Biographie erst recht sein“ (S. 7). Aber einen großen Schritt vorangekommen sind mit ihrer Arbeit wir alle.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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