Eine Rezension von Hans-Rainer John

Ein Werwolf im Mercantour

Fred Vargas: Bei Einbruch der Nacht
Roman.
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel.
Aufbau-Verlag, Berlin 2000, 336 S.

Gute Abenteuerliteratur ist auch in unserem wildwuchernden Literaturdschungel eine Rarität. Da ist nun mal plötzlich ein Buch da, das alle Qualitätsmerkmale zu erfüllen scheint: ein abenteuerlicher, unalltäglicher Plot, ein ungewöhnliches Personenensemble, dessen Charaktermerkmale auf den ersten Blick absonderlich, ja skurril, auf den zweiten Blick aber sympathisch und angenehm erscheinen, eine eingängige Erzählweise auf literarischem Niveau und Spannung von der ersten Seite an, so daß man den Roman nicht mehr aus der Hand legen möchte. Aber wehe, wer zu früh jubelt. Es sind die letzten 22 Seiten, die es in sich haben und das Hochgefühl jäh sinken lassen.

316 Seiten lang nämlich jagen die Figuren einem Phänomen hinterher, und spätestens danach muß das Rätsel gelüftet werden - wer oder was ist der Täter? Der übliche Krimi rekrutiert ihn tunlichst aus der Reihe der Nebenpersonen, die etwas außerhalb des Blickwinkels lagen, oder er fügt eine überraschende Neuerfindung hinzu. Wenn er gut ist, dann sind Umstände eingebaut, die zumindest dem aufmerksamen Leser hätten zu denken geben müssen - ganz aus heiterem Himmel fällt auch der schlimmste Unhold nie. Hier aber wird ein Sympathieträger als verbrecherischer Bösewicht „entlarvt“, der sich im ganzen Buch zuvor als klug und hilfsbereit, liebebedürftig und liebespendend, umgänglich und solidarisch erwiesen hatte, der zwar wortkarg war, aber doch wohl gemütlich, herzlich und patent. Da fühlt sich der Leser nicht nur überrascht, sondern regelrecht betrogen, denn niemals zuvor war auch nur das geringste Anzeichen eines Fragezeichens gesetzt, kein Changieren erkennbar geworden, und der Autor gerät überdies nun deutlich in Erklärungsnot. Umständlich und geradezu abenteuerlich muß er eine Begründung zusammenzimmern, die in der gebotenen Kürze schlüssig, glaubhaft und einleuchtend gar nicht gelingen kann. Sie wird hier in der Form eines polizeilichen Protokolls knapp zusammengefaßt, also auch ein bißchen außerhalb der Handlung nachgeliefert.

Nein, dieser enttäuschende Schluß ist und bleibt ein ärgerlicher Schönheitsfehler am Ende eines wundervollen Buches, das bis dahin rundum überzeugt, nach seinem Erscheinen 1999 sofort auf die französischen Bestseller-Listen gelangte und demnächst verfilmt werden soll. Es ist der vierte Roman der 43jährigen Fred Vargas, die in Paris lebt und hauptberuflich als Archäologin in einem Forschungsinstitut tätig ist. (Titel der Vorgänger-Bücher: Die schöne Diva von Saint-Jacques, Der untröstliche Witwer von Montparnasse und Es geht noch ein Zug von der Gare du Nord)

Die Handlung von Bei Einbruch der Nacht (der Originaltitel L'Homme à l'envers ist auch nicht viel plausibler) ist im bergigen Hinterland von Nizza angesiedelt, in den See-Alpen an der Grenze zu Italien. Schätzungsweise vierzig Wölfe sind von den Abruzzen herübergekommen und reißen in den Schäfereien des Mercantour unschuldige Tiere. Die todgebissenen Schafe sind zwar ein ärgerlicher Verlust, aber Panik kommt erst angesichts erster Menschenopfer auf. Mit der Schafzüchterin Suzanne Roseelin nimmt das Unglück seinen Anfang und zieht dann eine Blutspur durchs Gebirge - drei ältere Männer werden nacheinander mit durchbissenen Kehlen aufgefunden. Wölfe verhalten sich Menschen gegenüber in der Regel nicht so, die Tatorte liegen zudem weit auseinander, und die an den Toten aufgefundenen Gebißspuren sind nahezu gigantisch - so kommt das Gerücht von einem Werwolf auf. Aufgeklärte Geister wissen natürlich, daß dieses reißende Menschentier in den Bereich der Sage gehört, aber was wäre, wenn ein Psychopath mit einer Dogge oder einem dressierten Großexemplar von Wolf motorisiert zugange war? Da ist doch der merkwürdige Schlachthofarbeiter Auguste Massart, der ganz abseits und einsam lebt und einen Hund hat, und der Wolf, den man Crassus, der Kahle, taufte, ist doch auch verschwunden ...

Da die Polizei kaum aktiv wird, nehmen zwei Leute, die Suzanne sehr nahestanden, die Verfolgung auf: der ihr ergebene alte Schäfer Philibert Fougeray, der zwar wortkarg ist, die Augen aber wachsam überall hat und mit seinen Tieren „telefonieren“ kann, und ihr halbwüchsiger Ziehsohn Soliman Diawara, ein schwarzhäutiges Findelkind, das sein Wissen afrikanischen Märchen und modernen Wörterbüchern verdankt. Beide überreden Camille, eine junge, hübsche, vielbegehrte Komponistin, die auch klempnert, am liebsten in Werkzeugkatalogen schmökert und in kameradschaftlicher Verbundenheit mit dem australischen Grizzly-Forscher Lawrence zusammenlebt, ihren klapprigen Lastkraftwagen zu steuern. Als das nach Art und Alter sehr ungleiche Team hilflos erkennt, daß es immer zu spät an den Tatorten eintrifft, zieht Camille noch einen Freund hinzu, mit dem sie eine alte Liebe verbindet, den kernigen Pariser Kommissar Adamsberg, der für seine spleenig wirkenden Ermittlungsmethoden bekannt ist und dem der Ruf nicht unwillkommen ist, weil er gerade abtauchen muß, da ihm eine rachlüsterne Täterin das Lebenslicht ausblasen will ...

Das alles ist wunderbar zu lesen, zumal die Schilderung der Umstände, Personen und Beziehungen absolut „dicht“ ist, köstlich, spannend und das Herz erwärmend. Ein Roadmovie über steile Pässe hinweg, der absolut miterlebbar wird. Nur eben, daß am Ende einer sehr mutwillig als Täter „entlarvt“ wird...


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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