Eine Rezension von Hans-Rainer John

In den Spuren Aitmatows

Alan Tschertschessow: Requiem für einen Lebenden
Roman. Aus dem Russischen von Annelore Nitschke.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 384 S.

Dieses Buch ist schwer einzuordnen - ist es Gesellschaftsparabel, Saga eines dreifachen Generationskonflikts oder Anti-Liebesgeschichte? Auf jeden Fall hat es mythische Züge, die sich jeder historischen Einordnung entziehen (da ist von einer gebrechlichen Tante Anissa die Rede, die „war knapp tausend Jahre alt“), Züge einer weitgespannten Sage oder eines bedrückend ernsthaften Märchens. Der Verlag rückt es in die Nähe von Faulkner und Kafka, aber diese Verwandtschaft ist wohl weit hergeholt. Viel eher ist an Tschingis Aitmatow zu denken, der ja auch nicht gerade in den Spuren von Puschkin oder Tolstoi wandelt und wie Tschertschessow (38), der aus Nordossetien stammt (studierte und lehrt jetzt an der Universität Wladikawkas, wo er auch Leiter eines internationalen Sprach- und Kulturzentrums ist), aus einer Völkerschaft der ehemaligen Sowjetunion hervorging. Aber während Aitmatow meist von einer einfachen, realistischen Alltagsgeschichte ausgeht und sich der Märchen und Sagen nur zur Überhöhung und historischen Dimensionierung bedient, ist Tschertschessows Text von einer betäubenden Vielschichtigkeit und voller schwerer Rätsel und philosophischer Weisheiten - schwer auszuschöpfen und der mehrfachen Lektüre wert.

Denn trotz der mehrfachen Vorbelastung bleibt die Geschichte stets erkennbar, verfolgbar und spannend, fesseln die Figuren und ihre Schicksale das Interesse, zumal die Handlung gleichsam wie die Phantasie des Autors und seine Fabuliersucht nahezu überbordet und durch Originalität und immer wieder neue Haken überrascht. (Ohne irgendeine Unterteilung nach Kapiteln oder ähnlichem, ja fast ohne Absätze fügt der Autor, eine große Zeitspanne erfassend, eine Episode an die andere.)

Erzählt wird übrigens in einer kernigen, knorrigen Sprache, die sich bildhafter und überraschender Vergleiche bedient, insgesamt aber flüssig dahingleitet (ein Lob der Übersetzerin). Ein Beispiel gleich von der ersten Seite: „Die ganze Geschichte mit ihm hat sich im Gedächtnis setzen und glätten können wie Butter im Faß oder wie die Wunde im Mund von einem gezogenen Zahn. Den Zahn lernt man erst dann zu schätzen, wenn man ihn los ist, erst dann überlegt man, wozu er gut war, die Zunge fährt immer noch von ganz allein in das Loch und fühlt nach; sie will den Verlust nicht glauben, zweifelt immer noch, prüft immer noch nach, ob es ihr nicht nur so vorkommt, bis sie es schließlich müde wird und sich daran gewöhnt. Wie manchen Tag spähen die Augen jedermann zuallererst in den Mund und nehmen dann erst alles übrige von ihm wahr. Hab ich nicht recht? Wohl, wohl. Und das geht allen Menschen so.“

Der Erzähler berichtet von Ereignissen in einem abgelegenen Aul, die er, sein Vater und sein Großvater in drei Jahrzehnten erlebt, erfahren und durchlitten haben. Alle haben mit ihm zu tun, dem Einsamen, der als Vollwaise zehnjährig in das Dorf kam, den leerstehenden Hadsar seiner Verwandten bezog, sich durch einen listigen Handel das tägliche Brot und eine rostige Flinte beschaffte und die ehrwürdigen Greise zwang, sich zu seiner Begrüßung im Nihas zu erheben und ihn als gleichgestellt anzuerkennen. Begabt mit der Kraft, schon als kleiner Junge Bären zu erlegen, mit der Fähigkeit, wundervolle Bilder zu malen, und mit der Intelligenz, aus vorteilhaften Geschäften Gewinn zu ziehen und den Alltag verändernd zu bereichern, vergiftet der selbstbewußte Außenseiter den Aul durch sein unanständiges Glück und verdammt sich zur Einsamkeit. Denn sein Erfolg löst Neid aus, der Neid den Wetteifer, das Scheitern die Scham. Daß der Herausforderer seine Würde auf der Schande der Dorfbewohner aufbaut, kann ihm nicht verziehen werden.

Als Heranwachsender will er die Einsamkeit überwinden, vielleicht läßt ihn auch das Glück, das alle seine Taten begleitet, übermütig werden: Eines Tages beginnt er, in die eskalierenden Ereignisse im Dorf einzugreifen und Schicksal zu spielen. Er macht aus dem Vater des Erzählers einen Dieb und versteckt ihn (für kurze Zeit, wie er meint) im Gefängnis, um ihn vor der Sünde des Totschlags zu bewahren (oder vor der Selbstverachtung wegen seiner Unfähigkeit zu töten), er will den Müller Baryski wegen Habsucht und Totschlags zur Verantwortung ziehen, und er will der schwachsinnigen und mißbrauchten Rahimat helfen, zu überleben und ihre Kinder zu gebären. Stets will er das Beste - aber damit übernimmt er sich. Es beginnt mit einem zufälligen Fehlschlag, dann häufen sich Mißerfolg auf Mißerfolg, seine Sicherheit und Sorglosigkeit verkümmern, die Gewißheit, stets zu siegen, schwindet, am Ende verstärken alle Schachzüge nur noch das Unglück, dem sie entgegenwirken sollen. Er verläßt sein Haus nicht mehr, man schreckt vor ihm zurück wie vor einem Pestkranken. War er früher einsam, weil man den Umgang mit einem ausgemachten Sieger nicht ertrug, so bleibt er nun einsam, weil niemand mit einem eingefleischten Verlierer zu tun haben will. Am Ende verläßt er die Gegend.

Nein, eine optimistische Geschichte ist es nicht, diese Story von dem schuldlos Schuldigen, von dem tatkräftigen Menschen, der stets das Gute will (Blut, Haß, Streit und Rache vermeiden helfen zum Beispiel) und doch das Böse schafft. Daß er „gegen die Despotie von Tradition und Gesellschaft aufbegehrt“, daß er ein Mensch ist, „der der Gemeinschaft den Spiegel vorhält und alle gültigen Wahrheiten in Frage stellt“, wie der Klappentext des Verlags postuliert, kann ich nicht finden. Ein Revolutionär, dessen Tragik darin liegt, daß er zu früh gekommen ist, ist der „Einsame“ wohl nicht. Dann müßte die Erzählhaltung des Berichterstatters eine andere, selbstkritischere sein. Die Schwermütigkeit der Geschichte wird freilich durch die Tatsache gemildert, daß sie von einem relativ Unbeteiligten aus der Nachfolger-Generation objektivierend erzählt wird und nicht im Selbstgefühl des gescheiterten Helden ertrinkt.

Mit „Umbruch“, „Anbruch einer neuen Zeit“ oder „Zeitenwende“ ist hier auch kaum Trost zu spenden, obwohl es irgendwo im Text einmal heißt: „Die Zeit ist müde geworden und verschlissen, und schon ist die neue zur Ablösung da und beschnuppert dich kurzsichtig und mit gierigen Nüstern. „Aber da geht es nicht erkennbar um eine neue Qualität (kurzsichtig, gierig), nur um zeitliches Fortschreiten und vielleicht um eine Moral im Goetheschen Sinne: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

Dieser Roman ist für Tschertschessow, der bisher nur Erzählungen und Novellen schrieb, ein Debüt. Das ist wahrhaftig ein erstaunlicher Kraftakt. Anspruch und Gelingen läßt noch Großes erwarten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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