Eine Rezension von Gisela Reller
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„Alles wirkliche Leben ist Begegnung ...“

Regina Scheer: Es gingen Wasser wild über unsere Seele
Ein Frauenleben.
Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 285 S.

Dieses detailliert-kenntnisreiche Buch kann nur schreiben, wer sich seit vielen Jahren mit der jüdischen Thematik beschäftigt. Regina Scheer, 1950 geboren, arbeitet freiberuflich als Publizistin, Hinstorikerin und Herausgeberin – fast immer ist Jüdisches ihr Thema. Ihr erstes Buch AHAWAH. Das vergessene Haus (Aufbau-Verlag, 1992) ist die bewegende Biographie eines in der Berliner Auguststraße stehenden Gebäudes, einst ein Kinderheim, das für jüdische Kultur und jüdische Schicksale steht. In diesem heute „vergessenen Haus“ arbeitete auch Hanni Ullmann, die 1929 als eine der ersten Einwanderer in Palästina eintraf. Ihr (Frauen-)Leben schildert Regina Scheers neues Buch.

Am Rande der Negev-Wüste hat die heute über neunzigjährige Hanna Ullmann, genannt Hanni, das Kinderheim NEVE HANNA (Hannas Oase oder Hannas Ort) gegründet. Hanna Ullmann gab hier, ihre eigene Familie vernachlässigend, entwurzelten, traumatisierten Kindern, die nationalsozialistischen Terror und Lager erlebt hatten, eine neue Heimat. Später, nach 1945, kamen andere seelisch verwundete Kinder in Hannis Heim, die Unvorstellbares überlebt hatten. Heute kommen sie aus zerbrochenen Einwandererfamilien, vor allem aus orientalischen und aus Familien russischer Einwanderer. Es ist ungeheuerlich, was Hanna Ullmann seit der Gründung des Kinderheimes leistete. Große Anerkennung verdient aber auch die Autorin, die dieses komplizierte Frauenleben mit dem Geflecht vieler, vieler sie umgebender Menschen aufbereitete, lesbar und bewegend darstellte. Viele Episoden und Kinderschicksale – von heute erwachsenen Frauen und Männern und von Hanni und anderen Zeitzeugen erzählt – treiben einem, obwohl von Regina Scheer sachlich und zurückhaltend wiedergegeben, Tränen in die Augen ...

Regina Scheers hervorstechende Eigenschaft ist vertrauenspendendes Zuhörenkönnen. Sonst würden ihre Gesprächspartner sich nicht so vollends öffnen. Andererseits muß sie aber auch nachfragen können, wenn die Sprechenden „einen Riß in der Seele haben und es nicht immer gut ist, an diesen Riß zu rühren“. Nachhaltig erschütternd fand ich die Begegnung mit einem Mann, der sich mit Frau Scheer unbedingt treffen wollte unter dem Vorwand, ihr einen Keramik-Wandteller anvertrauen zu wollen, obwohl er, ein kranker, alter Mann, sich wohl eher selbst anvertrauen wollte ... Es ist das erste Mal, daß ich in der schönen Literatur von einem einfachen Wehrmachtssoldaten lese, der aus eigenem Erleben freiwillig erzählt, wie er im August 1941 – freiwillig natürlich nicht – Juden erschoß. Nach der stockend vorgetragenen „Beichte“ schreibt Regina Scheer: „In meinem Kopf begann es sich zu drehen. Ich wollte nichts mehr hören, und gleichzeitig begriff ich klar, daß mir hier ein deutscher Mann erzählte, was sein Anteil war, sein eigener Anteil an dem, was man Holocaust nennt
oder Shoa
oder Judenmord
oder Endlösung
oder Vernichtungsfeldzug,
ohne daß es ein Wort gibt, das ausdrückt, was geschah.“

Was diese Episode mit Hanna Ullmann zu tun hat? Alle Episoden, auch scheinbar abseitige, sind irgendwie mit ihr verwoben, mal ganz direkt, mal nur lose. Hier ist die Verbindung zu ihr der Keramik-Wandteller, genau derselbe, den Regina Scheer in einer Töpferei gesehen hatte, als sie in Israel bei Hanna Ullmann zu Besuch weilte.

Regina Scheer scheut sich nicht, auch ihre eigenen Gedanken zur Gegenwart einzubringen. Da, wo es sich unaufdringlich ergibt, spricht sie über brennende Asylbewerberheime, angezündete Synagogen, zerstörte jüdische Friedhöfe, erschlagene Ausländer. Überhaupt beschreibt sie nicht nur Tatsachen, die ihr anvertraut wurden, sondern sie bringt sich als Mensch mit ein. Ganz am Schluß des Buches erfährt der Leser so, daß die Autorin nach dem Krieg selbst ein Heimkind war.

Der Buchtitel übrigens geht auf den 124. Psalm, Davids Lied, zurück: ES GINGEN WASSER WILD ÜBER UNSERE SEELE. UNSERE SEELE IST ENTRONNEN WIE EIN VOGEL DEM STRICKE DES VOGELERS; DER STRICK IST ZERRISSEN UND WIR SIND LOS. Zeilen dieses Psalms werden im Buch, empfand ich, denn doch zu oft wiederholt ...

Regina Scheer trägt seit Jahren einen Romanstoff mit sich herum, der nichts mit der jüdischen Thematik zu tun hat. Aber immer wieder werden jüdische Schicksale an sie herangetragen, Schicksale, die jetzt beschrieben werden müssen, weil deren Zeit- oder Augenzeugen keine Lebenszeit mehr zum Warten haben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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