Eine Rezension von Friedrich Schimmel
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Die Qualen der Vergangenheit in der Gegenwart

Timothy W. Ryback: Der letzte Überlebende
Auf der Suche nach Alfred Zahlenfeldt.
Aus dem Englischen von Christian Wiese.
Siedler Verlag, Berlin 2000, 222 S.

Der Autor, dessen Vorfahren einst in Österreich gelebt haben, ist mehrfach nach Dachau gefahren, um herauszufinden, wie die Leute heute dort leben. Belastet von dieser schweren Vergangenheit, gilt diese Stadt als „Epizentrum teutonischer Exzesse und Greueltaten in unserem Jahrhundert“. Dachau heute, meint der Autor, eine Geisterstadt, „ein verwünschter Ort“. Und „jedem Mann, jeder Frau und jedem Kind“ stehe „ein ausgelöschtes Leben“ gegenüber. Eine schwere Hypothek, die auf den Nachfahren lastet. Auf der einen Seite wurde das erste Konzentrationslager zu einer touristischen Attraktion mit jährlich einer Million Besucher ausgebaut, auf der anderen Seite die alltägliche Abwehr, kulminierend in der Frage: „Muß man verrückt sein, um in Dachau ein normales Leben zu führen?“

Timothy W. Ryback hat intensiv recherchiert. Die Mütter in Dachau bringen ihre Kinder in München zur Welt, damit nicht Dachau als Geburtsort im Ausweis stehen kann. Viele Dachauer bestehen trotzig darauf, hier „normal“ zu leben. Wer persönliche Erinnerung an die Vergangenheit in sich trägt, sieht es zwiespältiger. All diesen Arten der Verdrängung steht die Figur Alfred Zahlenfeldts gegenüber, ein 87jähriger, der sich letzter Überlebender nennt und täglich im Lager lauthals die Auffassung vertritt, in der Gaskammer seien Menschen umgebracht worden. Das aber wird von den Historikern bestritten. Immer wieder beobachtet der Autor diesen Rufer in der Wüste, ein einsamer Mann, ein Sonderling, der nichts verdrängt, nicht vergißt, vielleicht aber etwas zu viel aufträgt. Ryback recherchiert nicht nur in Dachau, er geht allen Spuren der Lebensgeschichte von Alfred Zahlenfeldt nach. Denn in den Unterlagen wird er nicht als Dachau-Häftling geführt. Woher also stammt er, warum sein Eifer, sein Übereifer, der auch mit einem kleinen Geschäftseifer gegenüber zahlungsstarken Amerikanern einhergeht?

Nach langer Suche wird der Autor in einer polnischen Kleinstadt fündig. Dort verbrannten die Polen alle Juden des Ortes während der Zeit der deutschen Besatzung bei lebendigem Leib in einer Scheune. Dort hat Alfred Zahlenfeldt wahrscheinlich Frau und Tochter verloren. Er bringt diese Geschichte unbewußt zeichenhaft mit Dachau in Verbindung. Deshalb hält er Wache vor dem Krematorium, läßt sich mit theatralischer Geste vor die Gaskammer fahren, seinen bevorstehenden Gas- und Flammentod heraufbeschwören. Eine Figur des unruhigen Gewissens, von den meisten Touristen neugierig, ehrfürchtig oder mitleidsvoll beachtet. Er spricht in vielen Sprachen, rückt mit hintergründigem Humor und sarkastischer Schärfe die Vergangenheit in die Gegenwart, spricht anschaulich und verwirrt, singt jiddische Lieder und stellt sich für Fotos jederzeit zur Verfügung.

Der Pater von Dachau meint, was alles dem Ort Dachau heute immer wieder angelastet werde, sei „wie das Kainsmal“. Dutzende Dachauer beschwören ein „Mitleids-Alibi“, denn, so schreibt Timothy W. Ryback: „Es war emotional niederschmetternd, diese ausgemergelten Gestalten zu sehen und zu wissen, daß es auf dieser, von Gott geschaffenen Erde, nichts gab, was man tun konnte, um ihnen zu helfen.“

Vereinzelt schon. Der Bäcker, der den Häftlingen zusätzlich Brot zusteckte, will kein Held sein. Dennoch, ein Überlebender aus Polen schrieb ihm: „Sie haben mir geholfen, während der schlimmsten Jahre meines Lebens den Glauben an die Menschheit zu bewahren.“

Für die jungen Mädchen war die Nazizeit manchmal wie der Himmel voller Geigen. Was die heutigen alten Frauen berichten, klingt schauerlich und seltsam. Aber auch das war und ist Dachau. Ryback schreibt: „Sabine liebt ihr Leben in Dachau. Sie hat es immer geliebt und sagt mit klarem Bewußtsein der Unschuldigen, die Jahre der Nazizeit gehörten zu den besten, an die sie sich erinnern kann.“ So groß waren die Kontraste, verschiedene Arten von Leben, dicht nebeneinander. Und doch ein Unterschied, wie zwischen Himmel und Hölle.

Timothy W. Ryback versucht, Licht ins Zwielicht zu bringen. Nicht jedes Detail konnte er erhellen. In manchen Punkten bleibt er bei Mutmaßungen, weil die Beweise fehlen. So bleibt auch Alfred Zahlenfeldt eine aus Realität und Phantasie gemischte Erscheinung. Der Autor meint einschränkend, er habe „in einigen Fällen“ - „wo die Erinnerung der einzelnen Gestalten versagte oder wo widersprüchliche Darstellungen vorlagen - bei der Nacherzählung ihrer Geschichte begrenzte künstlerische Freiheit walten lassen“.

In einem Kapitel seines Buches berichtet Ryback vom Besuch junger Bundeswehrsoldaten in Dachau. Es zeigten sich unter ihnen bewegende Zeugnisse „von Schuldgefühl und Reue“. Es gebe aber auch „Äußerungen von unerträglicher rechtsextremistischer Rhetorik“. Eine Seite später, der Autor beobachtet gerade wieder Alfred Zahlenfeldt im Lager, fällt ihm auf, daß er ein Paar anspricht, ohne eine Antwort zu erhalten. Diese Passage hat es in sich: „Noch immer keine Antwort. Gewöhnlich kann Alfred mit einem Blick auf die Schuhe, die Jacke, ja sogar auf die Gesten oder den Gang die Herkunft eines Besuchers herausfinden. Fünf Jahre und Tausende von Begegnungen haben seinen detektivischen Instinkt geschärft. Doch dieses Paar im mittleren Alter, mit seiner merkwürdigen Mischung aus Modeschuhen, Lederjacken und blassem mitteleuropäischen Teint, verwirrt ihn. Als auch das Russische keine Antwort hervorruft, sagt er: ‚Ich heiße Alfred Zahlenfeldt.‘ Verstehen flackert in ihren Augen auf. Alfred erkennt, daß sie ‚Ossis‘ sein müssen, deren elegantes Äußeres die Spuren eines Lebens, in dem sie viel Rotkohl gegessen und Braunkohle eingeatmet haben, nicht ganz überdeckt.“

Daß man Braunkohle nicht einatmen kann, weiß sicher jeder Schüler im Lausitzer Revier, daß man aber als Direktor des Salzburg-Seminars, „eines Forums für globalen Dialog“, wie es im Klappentext heißt, einen derartigen Humbug schreiben kann, läßt Zweifel an der Redlichkeit von Timothy W. Ryback aufkommen. Das ist besonders wahnwitzig, wenn man bedenkt, daß doch in diesem Buch die „Sünden“ der „teutonischen Exzesse“ ans Licht gebracht werden sollen. Auch ist der Siedler Verlag zu tadeln. Eine solche Passage, eine der dümmsten Blüten, die mir je auffiel, hätte er nicht durchgehen lassen dürfen. Beim Fußball hätte es dafür ohne Zögern die rote Karte gegeben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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