Eine Rezension von Jan Eik

Wie Geschichte geschrieben wird

Alexander Bahar/Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand
Wie Geschichte gemacht wird. Mit 46 Fotos und Dokumenten,
Quintessenz Verlag edition q, Berlin 2001, 864 S.

In der Spätzeit der DDR schien der Reichstagsbrand kein besonderes Thema zu sein, als allgemeine These verbreitet war die bereits im ersten Pariser Braunbuch von 1933 nachgewiesene (?) Urheberschaft der Nazis an diesem Ereignis, das ihnen politisch und historisch so gut ins Konzept paßte. Der historischen Wahrheit war überdies durch zwei Dokumentenbände „Der Reichstagsbrandprozeß und Georgi Dimitroff“ (1982 und 1989) anscheinend ausreichend Genüge getan. Ein dritter Band fiel den veränderten politischen Bedingungen in der DDR und in Bulgarien zum Opfer.

Im Westen tobte derweil seit dem Beginn der sechziger Jahre ein sich mehr und mehr verschärfender Historikerstreit über die Alleintäterschaft van der Lubbes und/oder die Beteiligung Görings und der SA am Reichstagsbrand. In dieser erbitterten und mit allen lauteren und noch mehr unlauteren Mitteln ausgetragenen Fehde kam es inzwischen längst nicht mehr auf Klärung des wahren historischen Sachverhalts, sondern allein auf die Stellung in und zu den gegensätzlichen Fraktionen Tobias/Mommsen gegen Hofer/Calic an, die sich gegenseitig so ziemlich aller Sünden ziehen, die seriöse Historiker sich vorwerfen können. Dem Verfassungsschutzbeamten und Hobbyhistoriker Fritz Tobias und dem Historiker Hans Mommsen stand als Verbreitungsmedium für ihre Alleintäterthese jahrzehntelang „Der Spiegel“ zur Verfügung, später schwenkte auch „Die Zeit“ zur Tobias-Fronde. Beinahe unumstritten galt damit Marinus van der Lubbe in der (west)deutschen Geschichtsschreibung als der alleinige Brandstifter.

Keineswegs unberührt von diesen jahrzehntelangen Grabenkämpfen legen nun zwei Wissenschaftler der mittleren Generation - Alexander Bahar, Jg. 1960, Historiker, Politikwissenschaftler und Publizist und Neuherausgeber der Hoferschen Reichstagsbranddokumentation von 1972; Wilfried Kugel, Jg. 1949, Physiker und Psychologe, der u.a. Hanussen. Die wahre Geschichte des Hermann Steinschneider schrieb - eine neue zusammenfassende Darstellung zum Reichstagsbrand vor, die den gegenwärtigen Forschungsstand präsentiert. Dabei schlagen sich die beiden Autoren unter Nutzung aller derzeit vorliegenden Quellen und Dokumente, darunter die seit 1982 in Ostberlin lagernden, für die allgemeine Forschung erst seit 1990 zugänglichen Originalakten, eindeutig auf die Seite des Schweizer Forschers Walter Hofer und gehen ausführlich auf die Vorgeschichte, die verdächtigen Lücken und die Unglaubwürdigkeit wichtiger Tobias-Quellen ein. Daß ausgerechnet der erste Gestapo-Chef (und spätere Spiegel-Autor) Rudolf Diehls Tobias’ Hauptzeuge war, der als Chef der Berliner Politischen Polizei bereits wenige Stunden vor (!) dem Brand für Preußen anordnete: „kommunistische Funktionäre erforderlichenfalls in Schutzhaft nehmen“, ist bezeichnend. Aber auch die zahlreichen zeitlichen und örtlichen Widersprüche im Ablauf des Geschehens im Reichstag am Abend des 27. Februar 1933 einschließlich des nie vollständig geklärten Weges van der Lubbes und das Fehlen seiner Fingerspuren an Gegenständen, die er nach eigenen Angaben in Händen gehalten haben soll, nähren erhebliche Zweifel an der Alleintäterschaft. Vom ersten Augenblick der Untersuchungen gab es Vertuschungen und Fälschungen; von der angeblichen Einstiegstelle van der Lubbes existieren keine Tatortfotos, und wie der junge Niederländer, dem der Kohlenanzünder längst ausgegangen war, als er den Plenarsaal betrat, den Riesenraum innerhalb von Minuten in ein Flammenmeer verwandeln konnte, bleibt ein Rätsel, das auch Tobias nur durch unbewiesene Behauptungen zu lösen wußte. Die in ersten Berichten vom Brandort genannten Flüssigkeitsspuren und eine Brandfackel, die Maßregelung des Berliner Oberbranddirektors Gempp, Görings Täterwissen und sein überaus frühes Eintreffen im Reichstag samt der niemals ausgeräumten Unklarheiten über die verwendeten Brandmittel und über die zeitgleiche Anwesenheit von SA-Männern vor Ort sind neben einer Fülle von weiteren Widersprüchen u. a. in der Biographie van der Lubbes und zu seinen Aufenthaltsorten und Handlungen unmittelbar vor der Tat starke Indizien, die gegen Tobias und seine „Gemeinde“ sprechen. Hingegen scheint mir der Vorwurf, Tobias könne „weder ein Abitur noch eine akademische Ausbildung vorweisen“ (und stieg dennoch in der niedersächsischen Beamtenhierarchie bis zum Ministerialdirektor auf!), gegenüber den Vermutungen über Tobias’ Tätigkeit während der NS-Zeit wenig relevant.

In ihrer breiten und detaillierten Darstellung können die Autoren nicht alles wiederholen (obwohl Wiederholungen im Text und in den Anmerkungen gelegentlich stören), was Hofer/Calic und das Luxemburger Komitee schon 1972 vorgelegt haben, ihren schlüssigen Folgerungen wird man sich in den weitaus meisten Fällen anschließen. Gewünscht hätte man sich in dem dickleibigen Band einen größeren Gebäudegrundriß, in dem vor allem der vielzitierte Verbindungsgang zum Reichstagspräsidentenpalais korrekt dargestellt sein müßte, um bestimmte Angaben nachvollziehen zu können. Im ehemaligen VEB Deutsche Schallplatten, der den Bau bis 1990 nutzte, wurde man als Besucher gern auf diesen von den Grenzorganen der DDR gesicherten Kellergang hingewiesen. Auch anderes erscheint nicht unbedingt einleuchtend, auf einem Foto ist beispielsweise das Beamtenhaus mit dem Französischen Gymnasium verwechselt, vom Kesselhaus ist nur der Schornstein sichtbar.

Den zeitlichen Ablauf exakt auf Minuten festzulegen ist angesichts des 1933 üblichen Standes der Zeitmessung kaum angebracht. Spekulation bleiben die Annahmen über das tatsächliche Wissen des nachweislich von der SA ermordeten Kriminellen Adolf Rall. Ungenau ist auch die Geschichte der Tonaufzeichnungen, die laut Bahar/Kugel auf Wachswalzen erfolgte - ein Verfahren, das seit Edison nicht mehr im Gebrauch war. Das Foto auf Seite 340 zeigt denn auch nicht die „Tonaufzeichnung auf Wachsplatten während des Prozesses“, sondern die Tonregie und den Protokollanten (des Reichsrundfunks?). Aufzeichnungen auf Wachsplatten waren vor Ort aus Gründen des dafür notwendigen Aufwandes kaum möglich. Im Archiv des Rundfunks der DDR (nicht des „Berliner Rundfunks“) lagerten die Tonaufzeichnungen vom Prozeß auf - im Gegensatz zum Wachs - mehrfach abspielbaren Decelith-Folien. Daß ein Teil dieser Folien und andere in Leipzig lagernde Prozeßmaterialien heute dem Zugriff der Historiker entzogen sind, merken die Verfasser mit Recht kritisch an.

Genauer als andere Publikationen geht Der Reichstagsbrand auf zahlreiche Nebenpersonen und auf die oft und ungenau kolportierte Hanussen-Story ein. In einem gesonderten Kapitel schildern die Autoren erstmals ausführlich die von Anfang an zwiespältige Rolle des Angeklagten Ernst Torgler, der im Leipziger Prozeß von dem prominenten Nazianwalt Sack vertreten wurde. Bahar/Kugel liefern interessante Einblicke in die Biographie des ehemaligen KPD-Fraktionsführers, der - in der DDR als eine Unperson, deren Gesuch auf Wiederaufnahme in die KPD Wilhelm Pieck ablehnte, kaum genannt - als „kommunistischer“ Kommentator an Geheim- und Propagandasendern der Nazis bei der Besetzung Frankreichs und der Sowjetunion mitwirkte und 1963 als SPD-Mitglied und pensionierter Gewerkschaftsfunktionär in Hannover starb.

Das Buch liefert, wie bei dem Umfang kaum anders zu erwarten, eine insgesamt überzeugende und detaillierte Fülle von Fakten zum Reichstagsbrand, zum Prozeß und zur Wirkungsgeschichte. Es stellt ein gut lesbares und gut handhabbares Kompendium zu einem Thema dar, das wohl niemals vollständig behandelt sein wird, aber eins deutlich zeigt: Wie Geschichte gemacht -und wie sie geschrieben wird.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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