Eine Annotation von Gisela Reller

Zielecinski, Benno und Petra:
Die Fleischfabrik
Ein Russlandreport.
verlag am park, Berlin 2001, 254 S.

Gerade habe ich kopfschüttelnd die beiden letzterschienenen Krimis der russischen Autorin Alexandra Marinina gelesen (Argon Verlag, Frankfurt am Main). Kopfschüttelnd? Es wimmelt darin von Mafiosi, Auftragsmorden und kriminellen Ungeheuerlichkeiten, daß man froh ist, dies nicht für aus dem Leben gegriffen halten zu müssen, sondern Gott sei Dank nur für ausgedachte Kriminalromane. Nun las ich Die Fleischfabrik. Das ist ein minutiös geschriebener Rußland-Report über ein russisch-deutsches Joint Venture zwecks Gründung eines Betriebes, der für die gebeutelten Russen gutgewürzte, hygienisch einwandfreie Wurstwaren herstellen wollte. Bei diesem nun tatsächlich aus dem Leben gegriffenen Buch kann einem sogar das Kopfschütteln vergehen. Hier geht es um korrupte kleine Beamte und korrupte große Politiker; um enorm hohe Bestechungsgelder, die als selbstverständlich bei einer Betriebsgründung einzuplanen sind; um eine ungeheuer aufgebauschte, ganz und gar undurchschaubare Bürokratie; um die Gerichtsbarkeit, die Recht demjenigen zuspricht, der am meisten zahlt oder am eindrucksvollsten droht. Und es geht um Mord (Auftragsmorde) und Totschlag - als die selbstverständlichste Sache der heutigen russischen Welt; das Buch spielt in der Zeit von 1995 bis 1999.

Als das wurstverarbeitende Werk Benno Zielecinskis schon produziert, zwingt die Mafia den deutschen Besitzer und die russische Mitgesellschafterin, den Betrieb einzustellen. Der Deutsche wirft nach vier Jahren unerbittlichem Kampf und dem Verlust eines nicht unbeträchtlichen Vermögens das Handtuch, die russische Teilhaberin Olga Wedyschewa gibt noch nicht auf - in einer Nacht- und Nebelaktion verlegt sie die Maschinen und Gerätschaften mit muskulösen OMON-Kämpfern aus Iwanowo nach Nishni-Nowgorod. Wie es hier weitergeht, erfährt der Leser nicht, aber er wird mit der Hoffnung entlassen, daß hier ein Gouverneur das Sagen hat, der als unkorrumpierbar gilt.

Benno und Petra Zielecinski arbeiteten jahrelang in Rußland für den DDR-Außenhandel. Sie glaubten, die Sowjetunion aus langjährigen Erfahrungen sowohl der Sowjetgesellschaft als auch in der anschließenden Phase der Perestroika zu kennen, aber - das heutige Rußland ist auch für sie unbegreiflich. Ich habe bisher kein Buch gelesen, das eine so beeindruckende Innenansicht von Rußland bietet. Nach der Lektüre dieses Reports versteht man, daß man vom heutigen Rußland nichts versteht. (Und daß man Entscheidungen der russischen Regierung keineswegs mit unseren Maßstäben werten darf.) Benno Zielecinski: „Für mich spiegelt das Schicksal meines Betriebes im kleinen wider, wie dramatisch sich die Ereignisse in Rußland entwickeln, welche katastrophalen Folgen dies nicht nur für mich und für Rußland, sondern auch für Europa haben könnte.“

Die angegebene Doppelautorenschaft ist aber wohl nur ein „Handkuß“ für die liebe Gattin, denn sonst hätte statt des Autoren-Ichs doch wohl ein Wir stehen müssen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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