Eine Annotation von Gisella Reller

Schmemann, Serge:
Ein Dorf in Rußland
Zwei Jahrhunderte russischer Geschichte.
Aus dem Amerikanischen von Anna Stern.
BERLIN VERLAG, Berlin 1999, 384 S.

Ich hatte etwas durchweg Nostalgisches erwartet; denn der Autor, ein emigrierter Nachkomme russischer Aristokraten, geht in diesem Buch den Spuren seiner Ahnen und ihrer Schicksale nach. Im Mittelpunkt steht dabei ein abgelegenes Dorf, hundertfünfzig Kilometer südlich von Moskau: Sergijewskoje, das von 1842 bis 1918 Wohnsitz der Familie Ossorgin war - der Ahnen Schmemanns mütterlicherseits. Obwohl die Ossorgins das Dorf Sergijewskoje nur fünfundsiebzig Jahre besaßen, reichte dieser geschichtsträchtige Zeitraum von der Epoche der Leibeigenschaft bis zur Revolution. In einer Chronik der Familie Ossorgin, die im Jahre 1900 von der Russischen Genealogischen Gesellschaft veröffentlicht wurde, ist zu lesen: „Die alte Linie der Ossorgins ... gehört nicht zur ersten Reihe der berühmten Familien des Moskauer Staates ... Unter den Familienangehörigen finden sich weder „bojare“ noch „okolnitschi“ (die beiden höchsten Ränge bei Hof) noch große Staatsmänner oder Militärführer, die den Ausgang von Schlachten entschieden mitbestimmten ...“ Sich selbst betrachteten die Ossorgins als „echte Landmenschen“, eng mit der Natur und dem Volk verbunden. Der Autor schreibt: „Die Ossorgins waren immer stolz auf das enge Verhältnis zu ‚ihren Leuten‘ gewesen, und ich zweifle nicht daran, daß sie die Bauern besser verstanden als die Intellektuellen, Revolutionäre und Politiker. Aber ich frage mich zugleich, ob sie auch das Elend und die Armut kannten, in der die Menschen lebten.“ Die Dorfbewohnerin Irina Jakowlewna Denissowa erzählte dem Autor, daß sie als jüngste von zehn Geschwistern in einem stinkenden Holzhaus mit Lehmfußboden aufgewachsen sei, das stets voller Rauch war, weil ihr Vater sich die Reparatur des Schornsteins nicht leisten konnte oder weil nur Stroh zum Heizen vorhanden war. Im Winter holten sie die Kälber und Ziegen ins Haus und teilten mit ihnen die abgestandene Luft.

Sergej Schmemann war Auslandskorrespondent in Bonn, für seine Berichterstattung über die deutsche Wiedervereinigung erhielt er den Pulitzerpreis. Gegenwärtig ist er Leiter des Jerusalemer Büros in New York, wo er seit 1951 mit seiner Familie lebt. Sein Buch hat auch mit seiner Korrespondententätigkeit für die „New York Times“ in Moskau zu tun, wo er in den achtziger Jahren akkreditiert war. Immer wieder hatte er versucht, von Moskau aus nach Sergijewskoje zu gelangen. Was ihm damals nicht gelang - wohl auch deshalb, weil der Name des Dorfes wechselte - zuerst hieß es Gorjainowo, dann Karowo, dann Sergijewskoje, heute Kolzowo - konnte er in den Jahren von Perestroika und Glasnost nachholen. Er - 1945 in Frankreich geboren - fuhr mit fünfundvierzig Jahren zum erstenmal in das ihm unbekannte Heimatdorf.

Serge Schmemann hat für sein Buch beruflich ein Jahr pausiert. Er konnte auf die Memoiren seines Großvaters Sergej Ossorgin zurückgreifen, fand viele Fotos - einige sind im Buch abgebildet -, entdeckte viele Briefe seiner Familie, wurde in verschiedenen russischen Archiven fündig, hat zahlreiche Zeitzeugen, die sich noch an die Revolutionswirren und an die Ossorgins erinnerten, penibel „verhört“. Die meisten sprechen von den Ossorgins voller Hochachtung und erzählen, wie unwürdig man sie davongejagt habe. Die meisten Ossorgins konnten fliehen, „aber bis ans Lebensende betrachtete jeder von ihnen Rußland als Vaterland und Sergijewskoje als geistige Wiege“. Ein Ossorgin, Georgi, wurde 1928 von den Bolschewiki erschossen - auf den Solowki-Inseln, „dem ersten Arbeitslager des berüchtigten Gulag“. Zurück blieb das Dorf Sergijewskoje, dessen Bewohner „Säuberungen“ anheim fielen oder gläubige Kommunisten wurden. In den Jahren der Sowjetmacht zerfiel das Dorf. Bei den perspektivlosen Menschen stößt die neue Demokratie auf wenig Interesse.

Schmemans Buch - wie kann es anders sein - wirft einen sehr persönlichen Blick auf die vergangenen zweihundert Jahre russischer Geschichte. Doch immer ist er bemüht um Objektivität: „Ich war russisch genug, um mit diesen Menschen mitfühlen zu können, sie sogar zu lieben, aber zu fremd, um ihren unerträglichen Fatalismus, ihre Unordnung und Heuchelei zu tolerieren.“

Ein gravierender Fehler des Autors sei angemerkt: Katharina die Große korrespondierte nicht mit Rousseau, sondern mit Voltaire. Schade, daß es zu Beginn des Buches keinen Hinweis auf die sehr informativen Anmerkungen am Schluß des Buches gibt. Schön, mal wieder ein Buch (mit nostalgischem?) Leseband in der Hand zu halten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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