Eine Annotation von Horst Wagner

cover Niemann, Heinz:
Der rote Bastard
Historischer Roman.
trafo verlag, Berlin 2001, 698 S.

Es fängt recht abenteuerlich an: In einer Juli-Nacht des Jahres 1894 verführt ein französischer Schloßherr seine junge deutsche Zimmermamsell - Zeugungsstunde des Romanhelden Julius Dietrich Herzog, alias Julien Blanc, alias Torsten Lorenzen, genannt „Der rote Bastard“. Was ist Legende, was Dichtung, was historische Wahrheit? möchte man beim Lesen immer wieder fragen. Wieviel Kolportage verträgt so ein Buch, wieviel braucht es, um einen breiten Leserkreis zu finden. Das Leben zweier historischer Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts habe für den Roman Pate gestanden, heißt es im Klappentext. Das des sozialdemokratischen Publizisten, Parteifunktionärs und antifaschistischen Widerstandskämpfers Julius Leber und das des jungen Willy Brandt.

Der Dietrich Herzog des Romans ist allerdings über drei Jahre jünger als der historische Julius Leber. Das Datum der Hinrichtung in Plötzensee dagegen - 5. Januar 1945 - stimmt überein. Mehr oder weniger Original Leber dürften auch die Lübecker Jahre sein, die Arbeit als Chefredakteur der dortigen SPD-Zeitung sowie die späteren Begegnungen mit den Männern des 20. Juli und dem Kreisauer Kreis. Aber Spanien? Die Auseinandersetzungen mit „Leitner“ alias Erich Mielke? An den jungen Willy Brandt erinnert der junge sympathische SAP-Genosse, dem Leber 1931 in Lübeck begegnet. Doch auch bei den Erlebnissen Herzogs in Norwegen vor und bei der Besetzung durch die Nazis dürften Stücke der Brandt-Biographie eingeflossen sein. Offenbar scheint hier - es lebe die dichterische Freiheit - eine ganze Menge geschüttelt und gerührt und auch ein tüchtiger Schuß James Bond hinzugefügt worden zu sein.

Herausgekommen ist nichtsdestotrotz oder gerade deshalb ein gut lesbares, interessantes, bildendes Buch, in dem fünfzig Jahre Geschichte - deutsche vor allem, aber auch französische, norwegische, spanische - differenziert und Hintergründe aufhellend beleuchtet werden: die späte Kaiserzeit, der Erste Weltkrieg, die Weimarer Republik, der Naziterror, vor allem der Antinazikampf deutscher Sozialdemokraten, aber auch der der Kommunisten und der Männer um Stauffenberg. Wir begegnen Hindenburg und Ludendorff, dem Reichspräsidenten Ebert und dem preußischen Ministerpräsidenten Braun, Hitler und Freisler, Thälmann und Bernhard Bästlein. Es ist schon eine ganze Menge, was da auf knapp 700 Seiten abgehandelt wird. Manchmal wirkt es wie eine Stopfgans an historischen Fakten und klugen Zitaten. Danach folgen wieder Passagen, die sich leicht und spannend lesen. Besonders gelungen sind die Szenen aus dem Alltagsleben im „Dritten Reich“ und die daran geknüpften Gedanken über den Masseneinfluß der Nazis.

Natürlich gäbe es auch noch manch Kritisches zu bemerken. Die Liebesszenen, vor allem im ersten Teil des Buches, duften ein bißchen stark nach Courts-Mahler. Machohaft wirkt, daß die körperlichen Vorzüge des Haupthelden immer wieder dick aufgetragen werden und fast alle jungen Damen auf der Stelle von ihm verzaubert sind. Manche Szenen im Paris- und im Spanienteil würden eher in einen Politkrimi passen als in einen historischen Roman. Schade natürlich auch die vielen Druckfehler. Aber die sind wohl eher dem Verlag als dem Verfasser anzulasten. In ihm, Heinz Niemann, haben wir jedenfalls einen historisch gut beschlagenen Autor kennengelernt, der interessant und fesselnd zu schreiben versteht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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