Eine Annotation von Horst Wagner

Chotjewitz, Peter O.:
Als würdet ihr leben
Rotbuch Verlag, Hamburg 2001, 232 Seiten

Ist das wirklich ein Roman, wie auf der Titelseite behauptet wird? Das mag sich mancher Leser bei der Lektüre von Chotjewitz' neuem Werk fragen. Einer mit logischem „roten Faden“ sicher nicht. Man mag es als ein Bekenntnis des Autors nehmen, was auf Seite 76 zu lesen ist: „Ich hasse Romane mit Handlungen.“ Durchgehende Handlungen würden nur von der Vielseitigkeit und Vielschichtigkeit des Lebens ablenken. Womit wir es hier zu tun haben, sind Gedankensplitter oder auch Tagebuchaufzeichnungen der Ich-Erzählerin, Leonie Katzmann genannt. Sie ist achtzehn, gilt als Wunderkind und hat erstaunliche Erkenntnisse. Über Politiker zum Beispiel meint sie, man bewerte sie danach, „wessen Lügen glaubhafter oder sympathischer sind, oder danach, wessen Wahrheiten wahrscheinlicher sind“. Und was die meisten Menschen von heute betrifft, so lebten sie „in einer Welt, die andere für sie entworfen haben. Sie leben wie die Bilder auf dem Monitor meines Computers. Wenn ich den Strom rausziehe, stürzen sie ab“.

Aber Leonie hat nicht nur schlaue Gedanken. Sie hat nicht nur einen Geliebten (einen, der sich seinen Penis amputieren lassen wollte). Sie plant auch einen Mord. Der Gedanke dazu sei ihr gleich nach dem Kosovo-Krieg gekommen. „Ich glaube, sie nannten ihn Friedensmission.“ Als Mordopfer sucht sie sich zuerst Leni Riefenstahl aus. Aber die trifft sie nicht. Dann beschließt sie, während der Geburtstagsfeier der Großmutter die Pfarrerin zu erschießen. Aber der Schuß wird von der Orgel verschluckt, was der Arm Gottes bewirkt haben soll ...

Man sieht schon: Ein ernst zu nehmender Krimi ist das nicht. Eher handelt es sich um eine Art Kriminalparodie. Vor allem aber haben wir es mit einer scharfen Gesellschaftssatire zu tun. Mit zahlreichen Ab- bzw. Ausschweifungen auf religiöse und sexuelle Gewohnheiten, Tisch- und Feiersitten, englische Gentleman-Traditionen und deutsches Beamtentum sowie einer fast populärwissenschaftlichen Erläuterung der Biotechnologie. Nicht jeder mag die Sicht von Peter O. Chotjewitz teilen, des 1934 in Berlin geborenen, heute in Stuttgart lebenden Autors, der bisher durch seine Romane Die Herren des Morgengrauens und Das Wespennest sowie durch seine Dario-Fo-Übersetzungen bekannt geworden ist. Amüsant ist seine Schreibweise aber allemal und nicht ohne tiefere Bedeutung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 08/01 (Internetausgabe) (c) Edition Luisenstadt, 2001
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