Eine Rezension Dorothea Körner

Spröde und melancholisch

Anna Mitgutsch: Haus der Kindheit
Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2000, 332 S.

Anna Mitgutsch (geb. 1948), Germanistin und Amerikanistin, lebt und lehrt in Österreich und den USA. Sie weiß also, wovon sie erzählt, wenn sie über einen erfolgreichen Restaurator jüdischer Herkunft in New York schreibt, der im Alter in das Haus seiner Kindheit in der österreichische Provinz zurückkehrt, von wo seine Eltern 1928 ausgewandert waren. „Von seiner Mutter hatte Max gelernt, dass die Erinnerungen das Einzige waren, was einem nicht verloren gehen konnte. Man durfte sie nur nicht ziehen lassen.“ Er hatte von dem Tag geträumt, an dem er seiner Mutter ermöglichen würde, in die hohen hellen Räum des Hauses am Hang über dem Fluß zurückzukehren, an den einzigen Ort, an dem sie sich zu Hause gefühlt hatte und wo sie einmal glücklich war. Für die Mutter kam die Rückerstattung des Hauses zu spät. Und Max, der sein ungebundenes, von Arbeitsleidenschaft getriebenes Leben in New York liebte, verschob die Rückkehr auf später. Seine ungestillte Sehnsucht nach Europa verriet sich lediglich in einer scheinbaren „Leichtigkeit dem Leben gegenüber, einer ironischen Verachtung jedes Anspruchs auf Endgültigkeit“, aber auch einer panischen Angst vor endgültiger Bindung, vor der Gründung einer Familie. Die Frau, die er am meisten geliebt hatte, hatte ihn deshalb verlassen.

1974, mit 51 Jahren, reist Max nach seiner Vaterstadt H., um das Haus, das seiner Familie gehört hatte, zurückzufordern. Die Laute seiner Kindheitssprache treffen ihn „wie ein Stich schmerzlicher, sehnsüchtiger Trauer“. Anna Mitgutsch beschreibt sehr genau, welche Reaktionen der Jude Max in dieser Provinzstadt auslöst. Bei den Einheimischen zumeist eine Mischung aus Überheblichkeit und Unterwürfigkeit. „Er ertappte sie bei ihrer erschrockenen, überstürzten Freundlichkeit, wenn sie erfuhren, wer er war, als hätten sie zu freimütig Unzensiertes ausgeplaudert, als hätten sie sich unbeobachtet zu sehr gehen lassen.“ Der Wirt seines Hotels bekommt etwas Vorsichtiges, hinterhältig Schlaues und Lauerndes, als er anhand des Passes Max' Lebensgeschichte errät. Auf den Ämtern begegnet ihm ein Bürokratismus, dem seine Sprachkenntnisse nicht gewachsen sind, und jedes Fehlen von Unrechtsbewußtsein. Er stößt auf infame Steuerforderungen des NS-Staates an seinen nach Dachau verschleppten Onkel und ein Gerangel unterschiedlicher Nazi-Behörden um das Haus. Als er die Sterbeurkunden seiner in den KZ umgebrachten Familienangehörigen vorlegen soll, übergibt er genervt und resigniert die Angelegenheit einem Anwalt, der ihm versichert, es werde einige Jahre bis zu einer befriedigenden Regelung dauern. Lediglich in dem etwa gleichaltrigen Arthur Spitzer, der das jüdische Gemeindebüro führt, findet Max einen Freund. Spitzer ist einer der wenigen Juden, die nach dem Krieg aus Palästina nach H. zurückgekommen sind. „Er habe nicht einfach allem den Rücken kehren können ..., den Toten, dem Zerstörten, den Erinnerungen.“ Er sei ein anhänglicher Mensch und sehe nicht ein, warum er sich ständig dafür verantworten müsse, daß er hier lebe, erklärt er. Auch die junge Nadja, die ihre Familie und diese Stadt haßt und in der jüdischen Gemeinde Geborgenheit sucht, interessiert Max. Da sein Haus noch von den Nachkommen der Nazimieter bewohnt wird, die überdies zeitlebens Mieterschutz genießen, sieht sich Max nicht in der Lage, in absehbarer Zeit das Haus zu beziehen. Er beschließt zu warten, bis es völlig leer steht.

Das geschieht 1992. Max steht in seinem 70. Lebensjahr. Er hatte nach seiner Rückkehr in die USA eine Liebesgeschichte mit Nadja, die mit seiner Hilfe in New York eine angesehene Fotografin geworden ist. Ihre Wege haben sich seit langem getrennt. Mit der Restaurierung seines Hauses in H., das arg heruntergekommen ist, will Max sein Lebenswerk krönen. Sein Freund Spitzer residiert noch immer im Gemeindebüro und betreibt gerade den Wiederaufbau der Synagoge. Kenntnisreich beschreibt die Autorin das Gemeindeleben der wenigen, zumeist älteren Juden in H., ihre Sedder- und Pessachfeier, das Neujahrsfest und Jom Kippur. Sie erzählt davon, wie es in den 90er Jahren Mode wurde, sich für das jüdische Leben zu interessieren, wie Christen zum höchsten jüdischen Feiertag kommen, „um den Juden einer sterbenden Gemeinde beim Beten zuzusehen“, wie eine „makabre Lüsternheit in dieser Neugier“ lag. Max befreundet sich mit dem jungen Historiker Thomas, der ihm bei seinen Recherchen zu einer Geschichte der Juden in H. behilflich ist. Thomas hat voller Idealismus eine Gesellschaft gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit gegründet und bewirkt eine städtische Auszeichnung für Max zu dessen 70. Geburtstag - allerdings in Form eines Kreuzes (!). Die Gedankenlosigkeit und geheime Feindseligkeit, der bereits jüdische Kinder in der Schule begegnen, so daß sie, kaum erwachsen, nach Israel auswandern, wird spürbar. „Sie mögen uns nicht, ich habe mich hier nie zugehörig gefühlt“, sagt Spitzers Nichte Ofra. Und als Max bei einer Podiumsdiskussion befragt wird, wünscht er sich, behandelt zu werden wie ein Katholik, ganz normal. In New York hatte er kaum jemals darüber nachdenken müssen, was es für andere bedeuten mochte, daß er Jude war.

Max erlebt in dem Haus über dem Fluß alle Jahreszeiten, er genießt seinen Garten, befreundet sich mit Diana, der Schwiegertochter einer der angesehensten Familien im Ort, die unter ihrer halbjüdischen Abstammung leidet und gleichzeitig damit kokettiert, er trifft Nadja wieder, und er arbeitet an der jüdischen Chronik von H. In den alten Urkunden liest Max von Massakern im 14. Jahrhundert, von der Verbrennung der Juden nach Ausbruch der Pest, von Pogromen des Pöbels, die von den an die Juden tief verschuldeten Patriziern angezettelt wurden, von der besonderen Kleiderordnung für Juden und der Schikane des gelben Flecks im 15. Jahrhundert, dem judenfreien Status von H. gegen Ende des 15. Jahrhunderts, dem späteren Verbot an die Christen, mit Juden zu verkehren, mit ihnen zu sprechen usw. „Siebenhundert Jahre Mord und Vertreibung, in regelmäßiger Wiederholung, als drehe man sich in einer endlosen Gegenwart“, beginnt Max aufzuarbeiten, eine von den Chronisten vernachlässigte und von den Bewohnern H.s ausgeblendete Geschichte. Max geht dem Rätsel der paradoxen Geschichte nach, daß „eine durch die Jahrhunderte nachgetragene, unerwiderte Liebe der Juden zu diesem unwürdigen Ort ... keine andere Erwiderung fand als Raub, Plünderung und Mord“. Nach dem Tod von Spitzer und Nadja muß sich auch Max fragen, was ihn in H. noch hält. „Er musste sich von dieser Stadt und diesem Haus trennen, wenn er leben wollte.“ Auf dem Rückflug in die USA spürt er endlich „eine Woge von Wärme in sich aufsteigen, die stärker wurde, je näher er New York kam“.

In Anna Mitgutschs sprödem und melancholischem Roman begreift man etwas von dem unterschiedlichen Lebensgefühl amerikanischer und europäischer Juden. Ich hege allerdings den Verdacht, daß es ihr weniger um die Figur des Max ging als darum, die morbide, verlogene und heimlich antisemitische Atmosphäre in der österreichischen Provinz darzustellen. Max dient eher als Spiegel, in dem sich die österreichischen Zustände brechen und deutlich machen lassen. Seine zahlreichen Liebesgeschichten könnten ein Zugeständnis an das Unterhaltungsbedürfnis des Lesers sein, der Roman wirkt dadurch etwas disproportioniert. Das Buch scheint mir literarisch nicht ganz geglückt zu sein, aber es behandelt ein wichtiges Thema mit Kompetenz.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite