Eine Rezension von Hans-Rainer John

Ein Libanese im Berliner Großstadtdschungel

Marko Martin: Der Prinz von Berlin
Roman.
Quadriga Verlag, München 2000, 560 S.

Wie, zum Teufel, hat der Autor das gemacht? Er beschreibt auf 560 Seiten nicht nur, was der Libanese Jamal Kassim, 25, in vier Jahren in Berlin erlebt, er kriecht förmlich in diesen Kerl hinein, in sein Denken und Fühlen, sein Wünschen und Hoffen, sein Tun und Lassen. Er verschmilzt mit diesem Menschen, so daß er uns authentisch Kunde geben kann, wie ein Ausländer Berlin sieht und erlebt. Ja, es ist ein phantastischer Großstadtroman, hin und her springend zwischen Kreuzberg und Hellersdorf, zwischen Schmargendorf und Prenzlauer Berg. Er reflektiert das pulsierende Leben und führt detailversessen in viele Winkel, die selbst der eingeborene Berliner kaum kennt. Seit Barbara Sichtermanns Vicky Victory ist nichts Besseres über die Hauptstadt geschrieben worden. Spannung erwächst nicht aus spektakulären Katastrophen oder kriminellen Verbrechen, sondern aus dem farbigen Alltag mit seinen Auf- und Abschwüngen, aus dem Wechsel von Begeisterung und Trostlosigkeit, von Aufbegehren und Anpassung, von Sich-gehen-Lassen und energischer Anstrengung.

Jamal ist jung, hübsch, gesund, intelligent, sprachbegabt, und da in Beirut Kriegstrümmer beseitigt werden und viele Neubauten entstehen, kramt seine Familie alles Geld zusammen, um ihn nach Alamanya zu schicken: Bauingenieur soll er werden und nach seiner Rückkehr der Goldesel der Familie. Das erste Jahr in Berlin ist Lehrjahr: Jamal muß erst Deutsch lernen und kommt bei einem widerlichen Onkel unter, der ihn auf die Straße schickt, wenn er selbst Damenbesuch empfängt. Immerhin lernt Jamal auf der studentischen Fick-Börse Kerstin Dembruschkat kennen, die ihn nach Hellersdorf einbestellt (dort soll es angeblich schick sein, sich von einem Wüstenscheich nageln zu lassen). Aber die Rituale auf Kerstins Küchentisch wecken nur Jamals Widerwillen, und so entdeckt er seine Neigung zum eigenen Geschlecht. Da fügt es sich gut, daß er zu einer eigenen Wohnung kommt. Künftig surft er - getrieben von seiner Neugier auf neue Gesichter und Körper - souverän durch alle einschlägigen Clubs, Bars und Darkrooms, Techno- und Orgienschuppen, Diskos und Fitneßtudios, Saunen und Bäder. Grazil tänzelt er dahin, feste Bindungen scheuend, er sucht sich seine Partner für die Nacht, macht die Nacht zum Tage, fühlt sich als der Prinz von Berlin. Das Studium nimmt er nur widerwillig wahr, die Baukunst ist eben seine Sache nicht; immerhin muß er den elterlichen Auftrag erfüllen, lebt er doch von den Schecks aus Beirut.

Es ist ein tiefes Abtauchen in die Welt der Ausländer und Homos in Berlin.

Drei Ereignisse bestimmen das Ende der lustigen Tage. Als Türken seine Wohnungstür mit der Aufschrift „Schwuler“ verzieren, fühlt er sich bedroht. Er verläßt augenblicklich die schnieke Bleibe, zieht in ein dürftiges Zimmer, das nächtliche Besuche kaum erlaubt. Dann wird er nach Beirut zum Kurzbesuch geladen und mit den Hoffnungen der ganzen Familie konfrontiert. Und schließlich muß er erkennen, daß der für vier Jahre genehmigte Berlin-Aufenthalt nicht ausreicht, im Baufach den Abschluß zu machen. Eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis ist aber nur durch die Scheinheirat mit einer Deutschen zu erlangen, und das kostet Geld.

Jamal ist desillusioniert. Er läßt sein Studium baumeln und jobbt für Geld. Ein Party-Service ist's vorerst, wo er hippelige Heteros, Kulturschwuchteln, Multimedia-Affen und Eventjäger beobachtet, die ganze Fauna eben. „Wir sind der Farbtupfer, der nicht stört und gleichzeitig garantiert, daß sie sich wahnsinnig tolerant fühlen“, sagt das ausländische Dienstpersonal, das auf Empfängen und Vernissagen Häppchen und Drinks verteilt. Aber Jamal kann die Klappe nicht halten und verspielt das Wohlwollen des Arbeitgebers. Nun muß er auf den Bau. Auf dem Potsdamer Platz, wo der Bau der Glitzerpaläste durch asylsuchende Schwarzarbeiter, durch Polen und Griechen per Dumpinglöhne billig gehalten wird, greift er zu Hacke und Spaten. Aber eine Polizeikontrolle läßt alles auffliegen, und Jamal kommt um seinen Lohn. Er flieht zu seiner verständnisvollen Freundin Katja, verspielt aber ihre Hilfe, weil er sie durch Mißtrauen peinigt. Am Ende scheint es, als ob nur noch Avif helfen kann, den er eines Tages weggestoßen hatte, weil ihm die Bindung zu eng geworden war.

Daß Berlin aus Sicht des Libanesen nicht gut abschneidet, ist verständlich. Das Leben hier und seine Möglichkeiten sind natürlich o.k., aber zu regressiv gehandhabt werden die Regeln für Ausländer, zu bürokratisch-kompliziert ist das Geflecht, mit dem sich Jamal konfrontiert sieht, überall sind Stempel und Bescheinigungen von Nöten, und der Argwohn lauert an allen Ecken. Und seine Einwohner sieht Jamal nur aufgeblasen, mit sich selbst beschäftigt, mürrisch aufbrausend, Bierbäuche vor sich hertragend, ausgetrocknet, mißtrauisch, maulhängend, ohne Leichtigkeit. Da fehlen ihm die gewohnten lauten mediterranen Worte, Flüche, Segnungen, Beteuerungen, die großen Gesten unter blauem Himmel. Am undifferenziertesten abwertend ist wohl der Blick auf die Ossis. Daß Jamal Brandenburg als Land wahrnimmt, das alle greifbaren Ausländer auf seinem Territorium verdrischt und verjagt, ist am ehesten noch verständlich. Daß Ossis für ihn diejenigen sind, „die diese dicken Brillen mit den pißgelben Plastikgestellen tragen, einförmige Männlein in dunklen Anoraks mit Schirmmützen, die das ND lesen und in Plattenbaulöchern hausen“ und deren picklige Jungs „häßliche, dumpfe Männer sind, die's den Frauen nicht besorgen können, keinen Charme haben, nicht bitte und danke sagen“, ist schon eine schrillere Verallgemeinerung, aber immer noch lustig. Die penetrante Fick-Phantasie mit Regine Hildebrandt aber, die Jamal entwickelt, liegt total unter der Gürtellinie und jenseits des guten Geschmacks.

Interessant übrigens, daß es auch unter den Ausländern Berlins Hierarchien zu geben scheint. Onkel Ziyad zum Beispiel wirft den hochintelligenten Yousuf aus seiner Wohnung, weil er ein „Nigger“ ist. Israelis gelten den Libanesen natürlich sowieso als krumme Hunde, aber Jamals Blick auf die Türken ist auch alles andere als freundlich. Den Alten wirft er vor, daß sie, obwohl schon viele Jahre in Berlin, nur ein einziges deutsches Wort kennen würden, Sozialamt, und ihren Jungen, sie kreisten nur innerhalb der Trias Sportstudio, Kebab-Bude und Sozialamt. Den türkischen Frauen gegenüber kehrt er gar den tyrannischen Macho heraus („anatolische Mann-Weiber mit der Grazie eines Kühlschranks, breitbeinig und fettärschig, immer Sonnenblumenkerne zwischen den schiefen Zähnen“), fühlt sich selbst dagegen als schönes exotisches Fabelwesen. Die Osteuropäer rangieren wohl noch ein bißchen tiefer. Solidarisch empfindet man hier kaum.

Der Autor Mariko Martin (30), geboren in Burgstädt/Sachsen, siedelte 1989 in die BRD über. Einem Studium an der Freien Universität Berlin schlossen sich mehrjährige Aufenthalte in San Francisco und Paris an. Er publiziert in der „taz“, in „Die Zeit“ und „Die Welt“, veröffentlichte Reiseprosa, Essays und Gedichte. Das vorliegende Buch ist ein Roman-Debüt. Es beweist, daß Martin den langen Atem für die große Form hat. Es liest sich ausgezeichnet. Ein paarmal läßt Martin noch sein Sprachgefühl im Stich („Vielleicht kam das daher, weil ...“), einige malende Spezialausdrücke werden überstrapaziert und zu stark abgenutzt, aber dann gibt es auch schön formulierte genaue Beobachtungen: „Ein Gelächter saß in seinem Bauch und verstummte dort. Weil es oben, im Mund und in den Augen, nicht allein bleiben wollte, hatte es sich nicht herausgewagt.“ Einiges reizt, wie angedeutet, zum Widerspruch. Aber die betont subjektive, erfrischend respektlose Sicht Jamals muß ja keineswegs auf Objektivität und Ausgeglichenheit bedacht sein. Der Blickwinkel ist originell und erweist sich als wichtig und anregend. Da nimmt man in Kauf, daß das Bild Berlins ein wenig einseitig gerät: „Normale“ Leute mit Berufsalltag und heterosexuellen Beziehungen scheinen gänzlich in der Minderzahl, ja vielleicht sogar langweilig und altmodisch. Und der „Prinz von Berlin“ selbst ist natürlich auch kein „positiver Held“, zu dem man ungebrochene Sympathien aufbauen kann. Aber wer verlangt das schon?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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