Eine Rezension von Monika Melchert

Erzählen aus dem vollen

Sylvie Germain: Sara in der Nacht
Roman.
Aus dem Französischen von Christel Gersch.
Aufbau-Verlag, Berlin 2001, 223 S.

Anfang der neunziger Jahre tauchte eine französische Autorin auf dem deutschen Buchmarkt auf, die sogleich mit einem ungewohnten, alle Erwartungen sprengenden Erzählton auf sich aufmerksam machte und mit jedem Roman mehr in Bann zog: Sylvie Germain, Jahrgang 1954. Damals lebte sie für mehrere Jahre in Prag, wo sie an der Ecole française Philosophie unterrichtete. Rütten & Loening brachte ihre ersten vier Bücher heraus, beginnend mit dem Roman Das Buch der Nächte (1991), einer Familiensaga, die einem in ihrer Gewalt und erzählerischen Dichte den Atem verschlug; darauf folgten die Romane Tage des Zorns, Das Medusenkind, Bernsteinnacht - zwei von ihnen in der Reihe „Neue europäische Erzähler“ - und wenig später die Novelle Die weinende Frau in den Straßen von Prag. Sie alle haben etwas Besonderes, das aufhorchen läßt: eine hochgestimmte, ja selbst das Pathos nicht scheuende Diktion, ein heute schon fast unüblich gewordenes großräumiges, reiches, mit unerhörten Begebenheiten gesättigtes Erzählen, ein Erzählen aus dem vollen. Doch nicht nur wie sie erzählt, macht Eindruck, sondern vor allem ihre Geschichten, rauhe Schicksale, Geschichten von großer Liebe und großem Leid - Menschengeschichten. Man war erstaunt, daß heute überhaupt noch so erzählt werden kann, noch dazu von einer jungen Frau.

Jetzt legt der Aufbau-Verlag ihren neuen Roman vor, Sara in der Nacht. Und wieder fesselt Sylvie Germain mit einem weitausgreifenden Familiendrama, dem Schicksal einer jüdisch-französischen Familie über beinahe hundert Jahre. Im Zentrum stehen die Gestalt des Vaters, Théodore, der seine Frau Anna, seine späte Liebe, durch einen seltsamen tragischen Unglücksfall verliert - sie kehrt von einem Ausritt ohne Kopf im Sattel ihres Pferdes sitzend zurück; und vor allem die seines kleinen Sohnes Tobias, den er nach seinem Schock nicht allein aufziehen kann. Das übernimmt fortan die alte Deborah, Théodores Großmutter. Der Junge wächst heran und erlebt im Alter von zwanzig Jahren seine eigentliche Geschichte, gewissermaßen seine Initiation, die ihn am Ende mit Sara verbindet. Dem ganzen Roman unterlegt ist das alttestamentarische „Buch Tobias“, seine Grundfigurationen, seine Handlung, vor allem die Begegnung des jungen Tobias mit seinem Gefährten Rafael, der mit ihm seinen Weg am Meer entlanggeht und sich als ein Engel des Herrn herausstellt. Wer sich das Vergnügen und die Zeit gönnt, das Alte Testament zur Hand zu nehmen, wird mit Interesse feststellen, was Sylvie Germain sich angeeignet hat und wie und worin sie über den biblischen Text hinausgeht. Von jeher war es die Stärke dieser Schriftstellerin, ganz gegenwärtige Geschichten mit Elementen tradierter literarischer Motive und Überlieferungen zu einem farbigen Gewebe ihrer eigenen Art zu verbinden. So wird schnell klar, warum der Schutzumschlag das Bild eines jungen Mannes zeigt, von hinten gesehen, mit einem riesigen Fisch in der Hand. Es ist eine Lesefreude, die Motive und Abwandlungen zu vergleichen, wie sie die Bibel erzählt und wie sie andererseits von der modernen Autorin in die Welt des 20. Jahrhunderts, des Frankreichs von heute hineingestellt werden. Der Roman spielt in der Gegenwart an der westfranzösischen Atlantikküste, einem kleinen abgelegenen Ort im Marais poitevin, wo sich die Vorfahren von Tobias einst angesiedelt hatten, um mit der wertvollen, bläulichgrauen Tonerde dieser Gegend ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sylvie Germain aber greift viel weiter zurück, um so die verschiedenen Generationen dieser umhergeworfenen Familie mit in die Handlung einzubinden. Die faszinierendste literarische Figur des Romans Sara in der Nacht ist die nun fast hundertjährige Urgroßmutter Deborah, eine Gestalt mit biblischer Aura. Ende des 19. Jahrhunderts im südostpolnischen Galizien geboren, wanderte sie neunzehnjährig mit dem kläglichen Rest ihrer Familie nach Amerika aus, wurde jedoch schon im Hafen von New York zurückgeschickt und geht dann, nachdem sie auch die letzten Verwandten noch verloren hat, mit ihrem Mann zuerst nach Deutschland, später nach Frankreich. „Sie war noch keine zwanzig, aber mit einer jahrtausendeschweren Vergangenheit beladen.“ Ihr Leben steht exemplarisch für all das Leid, das europäische Juden in diesen Jahrzehnten durchzustehen hatten, aber ebenso für die beinahe unerschöpfliche Kraft zu widerstehen. Ihr wunderbares Erzählvermögen, Märchen und Sagen auf jiddisch, polnisch und französisch, weisen ihrem Urenkel Tobias den Weg in die Welt, selbst wenn er sie nicht immer versteht: „Und er skandierte im stillen ihre düsteren Strophen, wenn Deborah ihren Klangteppich webte und Märchen und Sagen in der Sprache ihrer Väter spann.“ Er wächst auf im Lichtkreis einer reichen kulturellen Welt, die sie ihm durch die Traditionen ihrer Herkunft vermittelt. Diese Frauengestalt, obgleich nicht die Hauptfigur des Romans, trägt die innere Spannung des Erzählens und hält die verschiedenen Ebenen von Historie und Gegenwart zusammen.

Das Mädchen Sara aber, das den Titel bestimmt, taucht erst am Ende und eher wie vom Hörensagen her auf. Tobias wird sie sich zur Frau gewinnen, indem er sie von einem scheinbaren Fluch befreit. Die Tochter des Malers Raguel, die durch ihre sonderbare Schönheit die Aufmerksamkeit und das Verlangen vieler junger Männer auf sich zieht, stürzt diese, ohne es zu beabsichtigen, jedesmal in ein tödliches Verhängnis. Alle, die um sie werben, finden kurz darauf durch einen Unglücksfall den Tod. So erzählt es schon das „Buch Tobias“. Mit Zunge und Herz des mächtigen Fisches, den die beiden jungen Männer im Atlantik gefangen haben, kann Tobias auf Ratschlag seines Begleiters Rafael den Bann des Unglücks brechen und Sara durch seine Liebe erlösen. Was erzählt wird, ist berührend, aber keineswegs sentimental. Durch die tradierte Überlieferung bekommen alle Einzelheiten der Romanhandlung, so real sie sein mögen, zugleich eine überzeitliche Bedeutung und eine geschichtliche Dimension. Der biblische alte Vater des Tobias „lobte Gott und sprach: Herr, du bist ein großer, starker Gott, und dein Reich währet ewiglich. Du züchtigest und tröstest wieder; du kannst in die Hölle stoßen und wieder herausführen; deiner Hand kann niemand entfliehen.“ So nachzulesen im „Buch Tobias“. Der Roman Sara in der Nacht von Sylvie Germain ist dennoch kein religiöses Buch, aber er macht einmal mehr sinnlich erfahrbar, daß die Bibel, Altes und Neues Testament, zu den Urgründen unserer Kulturtradition gehört.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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