Eine Rezension von Hans-Rainer John
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Ein Evolutionsbiologe schreibt einen Brief

Jostein Gaarder: Maya oder Das Wunder des Lebens
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.
Carl Hanser, München 2000, 432 S.

Selten habe ich einem Buch so hilflos gegenübergestanden. Der norwegische Philosophiedozent Gaarder (49) ist mit Sofies Welt (1993), in 44 Sprachen übersetzt, 30 millionenmal verkauft, immerhin weltberühmt geworden, er erhielt 1994 den Deutschen Jugendliteraturpreis, und auch die folgenden Bücher (1995 Das Kartengeheimnis, 1996 Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort, 1997 Das Leben ist kurz, 1998 Das Weihnachtsgeheimnis, 1999 Hallo, ist da jemand?) wurden Bestseller. Nun, der Literaturkritik steht keine exakte Wissenschaft mit Bewertungsskalen zur Verfügung, bei ihr spielen immer auch Fragen der individuellen Rezeption und des persönlichen Geschmacks eine Rolle. Möglicherweise wird ja auch Maya oder Das Wunder des Lebens zum Bestseller, aber für mich, das muß ich ehrlicherweise bekennen, wurde es eine herbe Enttäuschung.

Warum halte ich es für mißlungen? Vielleicht, weil ich sowohl einen realistischen Roman mit interessanten Figuren und überzeugender Handlung als auch ein aufschlußreiches Sachbuch über einen bewegenden Gegenstand zu schätzen weiß, aber meine, daß die Vermischung der Genres zu nichts Gutem führen und den Genuß nur verderben kann. So skizziert hier Gaarder eine spärliche Handlung (die Bezeichnung „Roman“ verwendet nur der Verlag, nicht der Autor) mit ein paar Figuren, von denen nur vier oder fünf einigermaßen Gestalt annehmen, die primär dazu dient, einen evolutionsphilosophischen Diskurs mit dem Leser in Gang zu setzen. Ob die Figuren nun einschlägige Kenntnisse mitbringen oder nicht - sie müssen sich zum anthropozentrischen Weltbild, zu kosmologischen Themen und ontologischen Gleichungen äußern, und das beschädigt nicht wenig ihre Glaubwürdigkeit. Und wo sich die Handlung nicht in Bahnen lenken läßt, was eine Erörterung von Evolutionshypothesen ermöglichen würde, flicht der Autor flugs einen tiefsinnigen vierzigseitigen Dialog mit einem Gecko ein. („Hast du schon mal darüber nachgedacht, daß unsere Autos mit dem Blut der Kreidezeit im Tank durch die Gegend düsen?“ - „Du bist ein unverbesserlicher Reduktionist. Aber du liegst nicht ganz falsch.“)

Die ganze Handlung hat die Form eines dreihundertseitigen Briefes, in dem der norwegische Evolutionsbiologe Frank Andersen (40) seiner Exfrau, der Paläontologin Vera, detailliert von seinen Erlebnissen berichtet. Als er in der Hotelanlage einer Fidschi-Insel ankommt, benutzt der britische Schriftsteller John Spooke (65) dort seine Anwesenheit zu einer ausgedehnten Debatte mit den hier weilenden Gästen über gängige Evolutionstheorien. Mit von der Partie sind der spanische Fernsehjournalist José und die Flamencotänzerin Ana Maria Maya. Frank meint, Ana schon begegnet zu sein. Wochen später löst sich das Rätsel in Madrid, als er im Prado vor der „Nackten Maya“ steht, die Goya vor zweihundert Jahren malte: Die Gesichter beider Frauen sind sich täuschend ähnlich. Ein Zufall, eine Laune der Natur, oder hat eine Vorfahrin Modell gestanden? José macht ihn mit einer mystischen Zigeunersaga bekannt, die Zusammenhänge eröffnen könnte. Von ihm erfährt er auch, daß Ana inzwischen einem Herzleiden erlegen ist. José lädt Frank zu einem Seelenamt für Ana nach Sevilla ein. Frank bittet am Ende des langen Briefes seine Exfrau Vera, ihn dorthin zu begleiten.

In einem fünfzigseitigen Vor- und Nachwort des fingierten Herausgebers John Spooke werden dann wesentliche Momente der Ereignisse als irrelevant enttarnt: Der Brief ist eine Ausgeburt seiner schriftstellerischen Phantasie, angeregt von einigen tatsächlichen Ereignissen und Begegnungen. Das Treffen in Sevilla hat wirklich stattgefunden, aber Ana ist gar nicht gestorben, sondern hat soeben einen kräftigen Jungen zur Welt gebracht. Da überrascht es dann auch nicht mehr, daß die inzwischen eingetroffene Vera schwanger ist und sich wieder mit ihrem Frank vereint.

Angefügt ist ein „Manifest“ mit 3 mal 13 Thesen, die angeblich von José und Ana stammen - eine Kaskade von rätselhaften Sentenzen, darunter kryptische Sätze wie: „Joker schleicht ruhelos zwischen den Elfen umher wie ein Spion im Märchen. Er macht sich Gedanken, kann sie aber niemandem gegenüber äußern. Nur Joker ist das, was er sieht. Nur Joker sieht das, was er ist.“ Oder philosophische Brocken wie folgende: „Plötzlich findet er sich auf einem todgeweihten Ritt von Alpha nach Omega. Er kann sich nicht daran erinnern, auf das Pferd gestiegen zu sein, aber er spürt die Fohlen des Daseins unter sich galoppieren und wird von geheimnisvollen Kräften gehoben, bis er Hals über Kopf abstürzt.“ Hübsche Formulierungen sind da zu finden, aber wo ist das geistige Band?

Wer einen anspruchsvollen Roman erwartet, wird von dem merkwürdigen Konstrukt möglicherweise enttäuscht. Wie steht's mit dem Gewinn aus dem evolutionsphilosophischen Diskurs? Wenn kosmologische Fragen als Gesellschaftsspiel aufgeworfen werden, kann man mehr als allgemeinste Aussagen schwerlich erwarten. Ist die Entwicklung des Lebens auf der Erde vielleicht nichts als eine sinnlose Laune der Natur? Natürlich folgen die Abläufe innerhalb der Natur einem tieferen Sinn. Ohne die Kaulquappen im Devon hätte es niemals ein Bewußtsein auf der Erde geben können. Ist der Mensch tatsächlich die Krone der Schöpfung? Der Mensch ist Ergebnis einer Entwicklungsreihe, ein Wirbeltier, ein Primat, aber auch ein Geisteswesen. Die Seele ist nicht nur ein biochemisches Sekret. Was kann uns von der Angst vor der Vergänglichkeit befreien? Wir sind nur flüchtige Geister auf der Durchreise u. a.

Ich bin kein Naturwissenschaftler, aber mir scheint, der Spiritualismus, der uns glauben machen will, es gäbe zwei getrennte Welten - eine der Natur und eine des menschlichen Geistes, des Geistes, der über den Gesetzen der Natur schwebt und uns erst zu Menschen macht, ist nicht das Hauptproblem. Immer mehr hat sich doch die Überzeugung durchgesetzt, daß es nur eine Welt gibt, die nach einheitlichen Regeln funktioniert. Es sind die Regeln der Evolution, Mutation, Selektion und Fortpflanzung, wie Darwin sie beschrieben hat. Die Fragen, die heute aber wirklich aufstören und aufregen - der Zusammenhang von Evolution und Freiheit, der Gen-Determinismus und sein Gegenteil, der Umwelt-Determinismus - , werden leider nicht berührt. Gerade bei der Gen-Technik aber erweist sich doch, daß die Kategorien unseres moralischen Denkens und die Moral unseren neuen Kräften weit hinterherhinken.

Der Verlag meint dazu, Gaarder bediene in Maya nicht primär unser Bedürfnis nach Wissen und Erkenntnis, er stachele aber Neugier und Phantasie an, und die erst verleihe der Schöpfung einen Sinn. „Durch die Liebe zu uns selbst und die Hinwendung zu einem anderen Menschen halten wir die Schöpfung, halten wir uns selbst am Leben - und zwar im doppelten, d. h. im biologischen und emotionalen Sinn.“ Das orientiert auf das Verhältnis Frank/Vera und José/Ana sowie die Lösung ihrer Nachwuchsfrage als Grundanliegen des Autors, aber hätte das Hohelied der Zweisamkeit nicht auch mit überzeugenderen Mitteln gesungen werden können?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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