Eine Rezension von Gisela Reller

Ist der verschwundene Schlüssel der Schlüssel?

Kristina Carlson: Ins Land am Ende der Welt
Aus dem Finnischen von Stefan Moster.
Alexander Fest Verlag, Berlin 2000, 192 S.

Für dieses Buch erhielt die Autorin die in Finnland wichtigste literarische Auszeichnung, den Finlandia-Preis. Warum, weiß ich nach der Lektüre des Romans nicht zu sagen.

In ihrem Debütroman - Kristina Carlson hatte bisher Gedichte veröffentlicht und einige Kinderbücher - macht sich im Jahre 1868 ein Kapitän Höök mit seinem Schiff und allerlei Glücksrittern auf die weite, gefahrvolle Reise in den Südosten Sibiriens. Wie die schwedischen Nachbarn damals in den Wilden Westen zogen, zog es die Finnen in den Wilden Osten; denn Finnland war dazumal Teil Rußlands, und der russische Zar unterstützte solche Expeditionen großzügig, galt es doch, das ferne Sibirien zu erschließen. Einer der Abenteurer ist der zweiundzwanzigjährige Student Lennart Falk, den die „Leere ins Land am Ende der Welt“ trieb, in der „Hoffnung, daß es auf der Welt ... einen Ort gibt, in dem sich alles erfüllt, ohne daß man darum bitten muß“. Dieser Ort schien Sibirien zu sein, „das Land am Amur, das Paradies“. Doch dieses Sibirien erwies sich als Utopia der finnischen Auswanderer und Lennart Falks. Dessen Vater, der Oberst, hatte genug davon gehabt, daß sein Sohn die Juristerei vornehmlich aus dem Flaschenhals studierte. Er wollte seine Füße nicht länger mit denen seines ungeratenen Sohnes unter denselben Tisch stellen. Von einflußreichen Verwandten und Freunden besorgte er Empfehlungsschreiben, damit der Sohn im fernen Sibirien ein Amt erhielt. Die 1949 in Helsinki geborene Autorin gesteht „ZUM BEGINN“, daß sie mit Lennart verwandt ist. In dieser also biographisch verbürgten Auswanderergeschichte erfährt der Leser von Sibirien, daß dort viel Schnee liegt und es bitterkalt ist. Überraschender ist da schon, was die Autorin über die gesellschaftlichen Vergnügungen in Nachodka - der Stadt der Mörder, Schächer, Diebe und Fälscher“ - schreibt. „Die Neuigkeiten aus St. Petersburg und Moskau wurden wiedergekäut und Spreu und Weizen zu ein und demselben Brei vermengt.“ Dazu trank man jede Menge Champagner und spielte Whist. Nirgendwo, behauptete die Autorin anläßlich einer Lesung, wurde soviel Champagner getrunken wie in Nachodka und Wladiwostok. So konnte man sich trotz der Verbannten und einheimischen Giljaken, Burjaten, Koreaner, Juraken (gemeint sind wohl Jukagiren) wie zu Hause in Europa fühlen. In dieser Hinsicht liest sich Kristina Carlsons Roman wie die ältere europäische Kolonialliteratur. Doch ein Historiengemälde reichte der Autorin offenbar nicht, und so wurde eine Kriminalgeschichte draus: Lennart Falk wird 1871 Opfer eines hinterhältigen Mordanschlages. Ist es ein Verbrechen aus Leidenschaft? Falk trieb es schließlich erst mit der Mutter Aleksandra, dann mit deren Tochter Vera. Oder ist es ein Verbrechen aus Eigennutz? Da käme der habgierige Geistliche Spiros in Frage, und auch der im Buch namenlose Chinese könnte den halben Ziegelstein auf Frank Lennarts Schädel zertrümmert haben. Und der Hofrat Viktor Petrow, Lennarts Chef? Der benötigte viel Geld für seine anspruchsvolle Geliebte. Den Schlüssel zur Kassentruhe aber besitzt nur sein Kontorist Falk. Ist dieser seit dem Mordanschlag verschwundene Schlüssel der Schlüssel zu dem Verbrechen? „ZUM SCHLUSS“ läßt uns die Autorin wissen, daß sie einen Brief besitzt, in dem die Polizeibehörde von Nachodka mitteilt, wer den Anschlag tatsächlich verübt hat. Man liest das als amtlich deklarierte Schreiben mit dem Namen des Mörders - und man ist verstimmt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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