Eine Rezension von Friedrich Schimmel

Meer oder weniger

Alessandro Baricco: Oceano Mare
Das Märchen vom Wesen des Meeres.
Aus dem Italienischen von Erika Cristiani.
Piper Verlag, München 2000, 279 S.

Alessandro Baricco hat eine große Leserschar in vielen Ländern. Seine Romanideen gefallen. Ob er einen Pianisten sein Leben lang auf einem Ozeandampfer leben läßt oder ein Mann davon träumt, eine unendliche Eisenbahnlinie zu bauen, immer schweift der Erzähler mit seinen Figuren weit in die Ferne. Und erfüllt Sehnsüchte. Auch sein neuer Roman, dem der Piper Verlag den verheißungsvollen Untertitel „Das Märchen vom Wesen des Meeres“ hinzufügte, spielt mit Fernsüchten, Illusionen. Kein Zauberberg, nur eine wunderliche Pension am Meer. Viel Meer. Und noch mehr Wasser. Damit spielt der Maler Plasson. Täglich steht er vor seiner Staffelei am Strand und versucht, das Meer zu malen. Ohne Farben, nur mit Meerwasser. Vorbeikommende staunen, denn Wasser hinterläßt auf der Leinwand (die in diesem Roman immer weiß ist, nie grau) keine Spuren. Aber den Gästen der Pension Almayer gefällt's. Jeden Abend das gleiche Spiel, die Flut naht, und wenn dem Maler „das Wasser schon bis ans Herz gestiegen ist, holt ihn ein kleines Boot ab. Er will es so. Er steigt in das Boot, bringt seine Staffelei und alles andere darin unter und läßt sich nach Hause rudern.“ Später kommt das Werkverzeichnis des Malers zum Vorschein, überwiegend „vollständig weiß“. Eine gewisse Komik entsteht dadurch, daß dieser Maler eigentlich Porträtmaler sein soll, hier am Meer aber nicht das findet, was bei jedem Porträt sein Ausgangspunkt ist: die Augen des Modells.

Wer viel aufs Meer sieht, zählt nicht mehr die Wellen, er sieht ins Weite, ins Nichts. Und erfindet dazu ein paar Geschichtchen, die wortreich aufgeblasen werden. Viel Luft über dem Wasser. Am Strand erforscht ein Professor die Wellen und die Länge der Flüsse. Alles muß unendlich sein, die geplante Enzyklopädie und somit auch dieses Buch darüber. Für den Baron von Carewell ist das Meer gar nur eine Idee. So treibt jeder sein aberwitziges Spiel, das vom Erzähler geschraubt-wortaufwendig beschrieben wird. Er charakterisiert unermüdlich das vibrierende Nichts, in dem sich seine Figuren tummeln. Erzählt wird auch melancholisch vom Meer, meist von Phantomen, einmal auch von einer titanicähnlichen Katastrophe. Manchmal sind sich die seltsamen Bewohner der Pension Almayer auch allesamt nah. Am Meer, Steine werfend. Dann wieder widmet sich der Erzähler weitschweifig seinem Professor Bartleboom, weil es „um das Geheimnis hochgelehrter Geister geht“, um „Räderwerke des Genius“. Dieser Spezies gehört der Mann an: „Kolossaler Unfug manchmal.“

Die einen kommen im Sturm um, andere fallen Menschenfressern zum Opfer. Auf dem Meer, weit draußen, ist alles möglich. Wer weniger weit hinaus strebt, kann, wie der Maler Plasson, heiter sterben: in „stiller Einsamkeit und mit friedvoller Seele“.

Oceano Mare liest man vielleicht am besten in einer stillen Stube, während draußen das Meer braust und der Wind heult. Und wenn man die Stimmungen (außen und innen) so recht zueinander getrieben hat, gefällt einem auch wieder das Schlußbild dieses aufwendig inszenierten Romans. Ein Mann verläßt am Morgen die Pension, „der Himmel war seltsam, einer von denen, die schnell vorbeihuschen, als hätten sie es eilig“; und so sieht der Mann auch nicht, daß sich die Pension gerade „von der Erde löste und sich ganz leicht in tausend Stücke auflöste“. Mehr Meer oder eher weniger, hier muß jeder Leser ganz allein für sich entscheiden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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