Eine Rezension Alfred Loesdau

Polemik um Revolution, Demokratie und Nation

Heinrich August Winkler:
Streitfragen der deutschen Geschichte.
Essays zum 19. und 20. Jahrhundert.
C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1997, 170 S.

Das Buch bietet einen Einblick in Fragen, die innerhalb und außerhalb der historischen Zunft diskutiert werden. Darüber hinaus werden die Ansichten und Positionen des Autors zu diesen Streitpunkten selbst zum Gegenstand der Diskussion. Unbestritten ist, daß die gegenwärtigen Neuanfänge, Brüche und Fehlentwicklungen in der Vergangenheit wurzeln. Deren Leistungen, Unterlassungen und Katastrophen bedürfen der historischen Wertung - und diese ist höchst umstritten.

Heinrich August Winkler, ordentlicher Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, legt eine Reihe von Essays vor, in denen er den tieferen Ursachen der großen Umbrüche in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts nachgeht. Er beginnt mit der Revolutionsauffassung von Marx, behandelt die konfliktreiche Beziehung von Demokratie und Nation in der deutschen Geschichte, untersucht den historischen Ort der Novemberrevolution 1918/19 und widmet sich der Frage, ob und wie die Katastrophe des Jahres 1933 hätte verhindert werden können. Nach 1945 stehen die Unterschiede der Weimarer und der Bonner Republik im Mittelpunkt. Die Untersuchungen kulminieren in einer Standortbestimmung der Deutschen vor und nach der Wiedervereinigung.

Winkler geht für die Zeit nach 1945 von zwei deutschen Sonderwegen aus: zum einen von dem Weg der Bundesrepublik, die sich als ein postnationales Gemeinwesen verstand, zum anderen dem Weg der DDR, die dem Internationalismus verhaftet war. Diese Wege „sind seit 1990 zum Anachronismus geworden. Aber sie wirken bis heute nach. Schon deshalb bedürfen sie der historischen Aufarbeitung.“ Dabei ist für Winkler die DDR die „zweite deutsche Diktatur“, wie die erste eine Unrechtsdiktatur. Die Aufgabe der Historiker sei es, „den tieferen Ursachen der zweiten deutschen Diktatur ebenso kritisch nachzugehen, wie sie es, spätestens seit den sechziger Jahren, im Hinblick auf die erste getan haben“. Diese Zielsetzung ist für Winkler die Prämisse seiner Essays, wobei jedoch nicht übersehen werden kann, daß die von ihm gehandhabte Gleichstellung der Herrschaftsverhältnisse in der DDR mit der Hitlerdiktatur höchst umstritten ist - nicht nur unter Historikern. Der erste Aufsatz des Buches befaßt sich mit der „unwiederholbaren Revolution“ von 1848. Der Zusammenbruch des Sozialismus am Ende des 20. Jahrhunderts habe seinen Ursprung in der Marxschen Auffassung, daß der bürgerlichen Revolution von 1848 die proletarische folgen würde - worin die Vollendung der Geschichte gesehen wurde. Die Oktoberrevolution in Rußland wäre in erster Linie eine Gegenrevolution zur Französischen Revolution von 1789 gewesen. Der Leninismus war nicht nur Produkt russischer Rückständigkeit, sondern auch Resultat der Marxschen Theorie. Damit läge - nach Winkler - die Wurzel des Scheiterns der DDR bereits bei Marx. Nun dürfte nicht zu bestreiten sein, daß es zwischen dem Scheitern des Sozialismus im 20. Jahrhundert und der Marxschen Theorie Zusammenhänge und Wechselseitigkeiten gab, aber ob durch die Konstatierung eines Fehlschlusses in der vermeintlich zentralen Frage dieser Theorie das auf ihr beruhende Gesellschaftsdenken generell gescheitert und widerlegt ist, dürfte wohl weiterhin eine Streitfrage bleiben.

Fragen von Demokratie und Nation in der deutschen Geschichte ist der zweite Aufsatz gewidmet. Ausgangspunkt ist das Spannungsverhältnis zwischen beiden in der Zeit von der napoleonischen Fremdherrschaft bis zur Reichsgründung 1871. Ein weiterer Schwerpunkt erstreckt sich auf die Entwicklung des Deutschen Reiches von der Gründung bis zum Untergang im Mai 1945. Verschiedene Positionen unter Historikern und Politikwissenschaftlern werden vor allem im dritten Schwerpunkt sichtbar, der die Geschichte der beiden deutschen Staaten bis 1990 umfaßt.

Die Auffassungen des Publizisten Burghard Freudenfeld, der Politikwissenschaftler Hans Buchheim und Karl Dietrich Bracher, des Historikers Waldemar Besson, des Politikers Helmut Schmidt zu Nation und Staat werden bei der Bewertung von Ursprüngen und Grundlagen der „Berliner Republik“ herangezogen, wobei für Winkler letztlich feststeht: „Nationszugehörigkeit ist in Deutschland immer noch in höherem Maße als das auch in anderen westlichen Demokratien der Fall ist, eine Frage der Abstammung und weniger eine des Willens, zur Nation zu gehören“ - eine Einschätzung, die ebenfalls die Diskussion anregen dürfte. Winklers Überlegungen kulminieren in der These: „Eine Verwestlichung, Modernisierung, Demokratisierung des deutschen Begriffs von Nation: das ist eine der Herausforderungen, vor die das vereinte Deutschland gestellt ist.“ Eine derartige Herausforderung bedarf zweifelsohne des Disputs, um sie mit konstruktivem Inhalt zu füllen.

Um die Bestimmung des historischen Ortes der Revolution von 1918/19 geht es in dem Essay „Vom Kaiserreich zur Republik“. Interessant ist die Frage, ob diese Revolution im Rückblick als gescheitert zu betrachten ist. Es wird zugestanden, daß die Politik der Mehrheitssozialdemokraten vom November 1918 bis zum Januar 1919 sehr umstritten ist, denn ihr Handlungsspielraum war größer, als sie meinten. „Sie hätten folglich bei stärkerem politischen Gestaltungswillen mehr verändern können und weniger bewahren müssen. Bei der unvermeidlichen (?) Zusammenarbeit mit Trägern des alten Regimes hätten sie selbstbewußt auf ihrem politischen Führungsanspruch beharren müssen.“ Ihnen werden vor allem militärpolitische Versäumnisse angelastet. Der berechtigte Vorwurf hindert Winkler jedoch nicht daran, die Auffassung zu vertreten, daß dieses „Mehr an präventativen Eingriffen“ das Scheitern der Weimarer Republik auch nicht hätte verhindern können.

Winkler konstatiert zudem ein Versagen der Basis der sozialdemokratischen Führer. Sie wären nicht bereit gewesen, gegen ihre putschenden Klassenbrüder (These vom „Spartakusaufstand“) mit der Waffe in der Hand anzutreten. Die revolutionären Vorgänge in München April 1919 veranlassen Winkler sogar zu der Behauptung, daß „das Trauma der Räteherrschaft“ schließlich „der Nährboden der frühen Erfolge Hitlers“ gewesen wären. Die Bilanz seiner Analyse lautet: Eine gesellschaftliche Revolution habe 1918 nicht stattgefunden, lediglich ein Wechsel der Staatsform wäre erfolgt. Die Frage, ob die Novemberrevolution als gescheitert angesehen werden müsse, ließe sich nicht mit einem pauschalen Ja beantworten. Das parlamentarische System von Weimar bot - wenn es auch gescheitert sei - die Gelegenheit „die Demokratie zu erproben“.

Das vierte Kapitel behandelt Fragen „von Weimar zu Hitler“, insbesondere die Arbeiterbewegung und „das Scheitern der ersten deutschen Demokratie“. Schwerpunkte sind die Rolle der Sozialdemokratie in der Endphase der Weimarer Republik, das Verhältnis von Sozialdemokraten und Kommunisten sowie Vermeidbarkeit oder Zwangsläufigkeit der „deutschen Katastrophe“. Mit dem Blick auf die nationalsozialistische Diktatur hätten die Sozialdemokraten eine Politik des kleineren Übels betrieben, als deren Kehrseite der ausgebliebene Widerstand gegen die Absetzung der preußischen Otto-Braun-Regierung durch Franz von Papen angesehen werden muß. Als staatserhaltende Partei betrieb die SPD eine Politik, die in völligem Gegensatz zu den Kommunisten stand, die einen gewaltsamen Umsturz anstrebten. Winkler bezweifelt, daß eine einheitliche Arbeiterbewegung überhaupt in der Lage gewesen wäre, Hitlers Machtantritt zu verhindern. Beide Parteien hätten nur ein Drittel der Wählerstimmen auf sich vereinigt.

Kurt Schumacher und die nationale Frage ist Gegenstand eines weiteren Kapitels. Zwei Gründe für dessen starke Betonung des Nationalen werden hervorgehoben: zum einen die nationale Propaganda der SED, zum anderen die historischen Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus. Der politischen Rechte sollte es nicht mehr ermöglicht werden, den Sozialdemokraten fehlende nationale Loyalität zu unterstellen. Zudem ermöglichte diese Position ein Zusammengehen mit Teilen des politischen Protestantismus.

Im sechsten Kapitel wird versucht, Weimar als Beleg dafür zu verwenden, daß das Geschichtsbild der PDS keinen Bruch mit Lenin vorgenommen hat. Es gäbe nach wie vor eine ungebrochene Kontinuität von Marx über Lenin zur SED und PDS - insbesondere in der Partei- und Revolutionsproblematik. Zu dieser recht kurzschlüssigen Betrachtungsweise müßten sich wohl zunächst jene Historiker zu Wort melden, die in dem Beitrag angesprochen werden, bevor gesagt werden kann, daß es sich um Streitfragen handelt, die eigentlich als erledigt angesehen werden können.

Der letzte Teil des Buches ist mit „Abschied von den Sonderwegen“ getitelt. Brachers Definition der Bundesrepublik als „postnationale Demokratie unter Nationalstaaten“ sei durch die Wiedervereinigung überholt. „Die neue Bundesrepublik i s t ein Nationalstaat - freilich eher einer der postklassischen als der klassischen Art.“ Damit sind die deutschen Sonderwege zu Ende gegangen. Das Zusammenwachsen der Deutschen könne durchaus als Neubildung der deutschen Nation angesehen werden. Jedoch der westdeutsche Verfassungspatriotismus müsse „zu einem Patriotismus der wechselseitigen Verantwortung aller Deutschen“ weiterentwickelt werden. Winkler resümiert seine Betrachtungen mit der Behauptung einer Notwendigkeit „der Verwestlichung des deutschen Verständnisses von Nation“.

Der Gewinn der vorliegenden Darstellung besteht in der Aufdeckung nicht weniger Mängel der professionellen Historiographie, für die der Versuch anregend sein dürfte, einen Überblick über den Stand der Diskussion historischer Streitfragen zu erhalten, auf dessen Grundlage vorhandene Erkenntnisse vertieft, wenn nicht auch hier und da korrigiert werden könnten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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