Eine Rezension von Gerhard Keiderling

Sowjetische Besatzungspolitik im Hochschulwesen der SBZ

Manfred Heinemann (Hrsg.):
Hochschuloffiziere und Wiederaufbau des Hochschulwesens in
Deutschland 1945- 1949
Die Sowjetische Besatzungszone.
Unter Mitarbeit von Alexandr Haritonow/Berit Haritonow/Matthias
Judt/Anne Peters und Hartmut Remmers.
Akademie Verlag, Berlin 2000, 478 S.

Untrennbar verbunden mit dem kultur- und bildungspolitischen Neubeginn nach 1945 in Ostdeutschland war das Wirken der sogenannten Kulturoffiziere, die im Auftrag der Volksbildungsabteilung und der Informationsabteilung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) handelten. In der relevanten DDR-Literatur genossen sie geradezu einen legendären Ruf als Mitgestalter eines „antifaschistisch-demokratischen Kulturlebens“ und Vermittler einer „unverbrüchlichen deutsch-sowjetischen Freundschaft“. Viele Künstler, Hochschullehrer und Wissenschaftler sprachen in ihren Erinnerungen von ihnen mit Hochachtung. Nach dem Untergang der DDR stellte sich auch auf diesem Sektor die Gretchenfrage nach Dichtung und Wahrheit. Dem Thema wandte sich ein Forscherteam unter Leitung von Manfred Heinemann von der Universität Hannover zu, das zuvor schon den Wiederaufbau des Hochschulwesens in den drei westlichen Besatzungszonen untersucht hatte.

Der vorliegende Band enthält wertvolles Quellenmaterial in unterschiedlicher Form. Im Mittelpunkt stehen die Protokollauszüge eines wissenschaftlichen Kolloquiums zum Thema „Hochschul- und Wissenschaftspolitik der SMAD“, das vom 30. August bis 4. September 1992 in Gosen bei Berlin unter Teilnahme von früheren SMAD-Mitarbeitern sowie von Vertretern der „Aufbaugeneration“ der DDR stattfand. Unter dem Aspekt von Zeitzeugenberichten sind besonders aufschlußreich ein Interview mit dem früheren Sektorleiter Hochschulen und Wissenschaften der SMAD, Pjotr I. Nikitin (vgl. die Rezension seiner Erinnerungen in „Berliner Lesezeichen“ 3/98), eine Erinnerung Nikitins an die Gründung der Freien Universität Berlin sowie ein Auszug aus den Erinnerungen von I. A. Bejdin. Nicht minder gewichtig sind die Spezialaufsätze unter Auswertung von Archivalien. Der Historiker und Archivar Andrej P. Nikitin, Sohn von Pjotr I. Nikitin, schrieb über „Die SMAD und die Sowjetisierung des Volksbildungssystems in Ostdeutschland 1945- 1949“ und „Die Politik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland zur Bildung des Lehrkörpers der Hochschulen“. D. N. Filippovich untersuchte „Die Entnazifizierung der Universitäten in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands“ und Alexandr Haritonow die „Auswirkungen der Reparations- und der Entnazifizierungspolitik der Sowjetischen Militäradministration an der Bergakademie Freiberg von 1945 bis 1948“. Alle Beiträge wie auch das Protokoll sind mit einem ausführlichen Apparat versehen. Personen- und Sachregister sowie Kurzbiographien der Autoren und Tagungsteilnehmer beschließen den Band.

Die Edition vertieft und bereichert das Wissen um den Wiederaufbau des Hochschulwesens in der SBZ. Der nach 1990 freie Zugang zu den Archiven der früheren DDR sowie die kurzzeitige Öffnung Moskauer Archive, die Offenheit ehemaliger „Kultur- und Hochschuloffiziere“ in ihren Erinnerungen und das (selbst)-kritische Sich-Stellen deutscher Zeitzeugen haben interessante Einblicke vermittelt, viele unbekannte Details zutage gefördert und insgesamt der Forschung neue Impulse gegeben.

Hervorhebenswert ist die Feststellung, daß die Sowjetisierung im Hochschulsektor in Etappen und nicht ohne Komplikationen erfolgte. Abgesehen davon, daß die SMAD auch auf diesem Gebiet ihre Tätigkeit mit allgemeinen Direktiven („Politik der jeweiligen Umstände“) begann, konkurrierten bis Ende 1947 noch zwei Konzepte. Während die Volksbildungsabteilung unter Generalleutnant P. W. Solotuchin den Typ der traditionsreichen bürgerlichen Universität durch antifaschistisch-demokratische Reformen verändern wollte, betrieb die Informationsabteilung unter Oberst S. I. Tjulpanow einen schnellen und radikalen Kurs im Geiste der Sowjetisierung, d. h. der Übernahme des totalitären Modells der Sowjetgesellschaft. Letztere setzte sich mit Ausbruch des Kalten Krieges durch und verschaffte der SED und ihrer Jugendorganisation FDJ eine Monopolstellung im Bildungswesen. Die Entnazifizierung der Hochschule - ein Potsdamer Gebot - war gründlich und doch zwiespältig. Einerseits wurden viele belastete Professoren und Hochschullehrer übernommen. In Ermangelung eines neuen Nachwuchses benötigte man diese „bürgerlichen Fachleute“ dringend für Lehre und Forschung, schuf sich aber auch ein „Widerstandspotential“, denn dieser Personenkreis verhielt sich politisch passiv und widersetzte sich „Neuerungen“ wie Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten, dem marxistisch-leninistischen Grundstudium und der Führungsrolle der SED. Andererseits verwehrte eine Verfügung von 1946, wonach die Zulassung von ehemaligen nominellen Mitgliedern der NSDAP („Mitläufern“) nicht 10 Prozent der Gesamtzahl der Studenten übersteigen darf, vielen Angehörigen der Kriegsgeneration den Zugang zur Universität, selbst wenn sie ihre Loyalität zur neuen Ordnung bewiesen hatten. Der schnellen und entschlossenen Ausmerzung der nazistischen Ideologie folgte in nicht minder rasanter Weise die Indoktrination des Stalinismus auf dem Fuße.

Was diese Entwicklung seinerzeit bewirkte und wie sie im Rückblick verarbeitet wurde, illustrieren die Protokolle des Kolloquiums auf anschauliche Weise. An mehreren Tagen debattierten Zeitzeugen und Wissenschaftler eine Vielzahl von Themen: Organisation und Arbeitsweise der SMAD und insbesondere ihrer kultur-, bildungs- und wissenschaftspolitischen Abteilungen, Zusammenarbeit in den alliierten Kontrollbehörden, Entnazifizierung und Demokratisierung, Kriegsschäden und Auswirkungen der Reparationsentnahmen, Zwangsverbringung deutscher Wissenschaftler in die UdSSR, Hochschulpolitik von SED und FDJ, Situation der Hochschullehrer und der Studentenschaft, Bildung gesellschaftswissenschaftlicher Fakultäten, Schaffung der Vorstudienanstalten und der Arbeiter-und-Bauern-Fakultäten und konkrete Vorgänge an den sechs ostzonalen Hochschulen. Zwei Sitzungen beschäftigten sich speziell mit der Entwicklung in der Viersektorenstadt Berlin von der Wiedereröffnung der Lindenuniversität bis zur Gründung der Freien Universität sowie mit der Wiedergründung der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Jahre 1946.

Für alle, die sich für Nachkriegsgeschichte von SBZ/DDR und für Hochschul- und Wissenschaftsentwicklung nach 1945 interessieren, bietet der Band eine wahre Fundgrube.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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