Eine Rezension von Jürgen Harder

Sein Vermächtnis

Johannes Gross:
Nachrichten aus der Berliner Republik 1995- 1999
Siedler Verlag, Berlin 1999, 250 S.

Nachrichten aus der Berliner Republik - bedenkt man, wie umstritten innerhalb der politischen Klasse der Terminus „Berliner Republik“ bei seiner schleichenden offiziösen Einbürgerung war, so nähme es nicht Wunder, wenn der Leser an diesen Titel ganz besondere Erwartungen knüpfte, sich von der Lektüre gar eine besondere politische Brisanz verspräche. Schließlich war Gross ein prominenter Befürworter jenes Namens für die neue Bundesrepublik. Ja - er darf sogar Ansprüche auf die Urheberschaft für diese ebenso präzise wie provokante Staatsbezeichnung geltend machen. Indes: Obige Erwartungen werden nicht erfüllt. Der Anteil von „Nachrichten“, die nicht das geringste mit der Berliner Republik zu tun haben, ist jedenfalls über die Maßen hoch. Verlegen weicht der Autor ins Vorwort aus, wo er die Berliner Republik im denkbar weitesten Sinne würdigt: als Ausdruck neuen deutschen Selbstbewußtseins. Wer also eine thematisch durchgehende und substantiell umfassende Aufhellung über die Berliner Republik - im engeren Sinne - erwartet, wird enttäuscht. Was nicht heißt: Hier liegt ein enttäuschendes Buch vor. Im Gegenteil. Spätestens mit der Kenntnisnahme des Untertitels „Notizen aus dem inneren und äußeren Leben“ sind die Erwartungs-Irritationen beendet. „Dies ist ein Notizbuch, kein Buch. Ich rate niemandem, die Aufzeichnungen ... fortlaufend zu lesen wie einen Roman; das einzige, das die Stücke verbindet, ist die Subjektivität des Verfassers.“ Diese Sätze des Autors (siehe Klappentext) klären uns endgültig darüber auf, was uns tatsächlich erwartet. Das Buch versammelt auf 250 Seiten nicht mehr und nicht weniger als 755 Notizen, die Johannes Gross im Zeitraum von Februar 1995 bis Juli 1999 niedergeschrieben hat. Und doch: Rechtfertigt ein Notizbuch wirklich einen solchen Aufwand? Eine so aufwendige Produktion eines in bestes Leinen gebundenen Bandes? Nun, ich habe mich überzeugt - Rechtfertigung genug ist dies: Gross hat an seinen Notizen so lange und so wunderbar gewerkelt, daß sie - in aller Regel - zu effektvollen Aphorismen mutierten. Einerlei, ob man das Buch nun von vorne bis hinten oder von hinten nach vorn liest oder ob man auch nur darin blättert: Auf jeder Seite versuchen gleich mehrere Gedanken einen feinsinnigen Flirt mit dem Leser. Gedanken - nicht nackt und bloß, sondern angetan, allermeist, mit sehr reizvollen Sprachkleidern.

Breit ist das Spektrum der Sujets. Kaum etwas aus unserem modernen Alltag entgeht der subtilen Beobachtung des Autors. Vielgestaltig ist die Welt der Personen und Gegenstände, die Gross seiner - teils schonungslosen, teils liebevollen - Reflektion unterwirft. Politiker und Politik. Literaten und Literatur. Unternehmer und Unternehmen. Mediziner und Medizin. Medien und ihre Macher. Überhaupt: Experten und ihre Expertisen. - Auch Rezensenten, und was von ihren Rezensionen zu halten ist. Natürlich: Menschen von Welt mit ihren nationalen Eigenheiten. So stolz wie genüßlich breitet der Verfasser seine Lesefrüchte vor uns aus; kokettiert mit seinen reichen Bildungs- und Kulturgütern; hinterfragt - sympathisch boshaft - immer wieder Moral und Moralisten. Und er besingt Genuß und Genießer. Insonderheit die kulinarischen. Kostproben zu geben ist - bei der Riesenmenge pointierter Notizen - freilich immer der blanken Willkür unterworfen. Also querbeet wenigstens drei Beispiele:

„Seit der Wiedervereinigung ist das Geschwätz vom Ende des Nationalstaats leiser geworden. Allmählich merken selbst unsere Politiker, daß Deutschland, zum erstenmal in seiner Geschichte, einer geworden ist und einer bleiben will - wie Frankreich, Italien, Britannien.“

„Alles Pathos der Freiheit ist auf ihre Erlangung gerichtet, auf den Kampf um die Freiheit. Ihr Besitz wird den Völkern rasch langweilig, es wächst die Bereitschaft, sie stückchenweise gegen Wohltaten einzutauschen.“

„Es gibt in Deutschland, mindestens beim zivilisierten Personal, nichts von dem, was man Antisemitismus nennt. Und doch gibt es einen, einen geheimen - so geheim, daß seine Träger nichts davon wissen und es mit bestem Gewissen empört von sich weisen würden, wiese man sie darauf hin. Er bestimmt nicht das Denken, aber steuert das Handeln ...“

Gerade nach dieser letzten Notiz kann der Leser allerdings nur staunen über das softe Licht, in welchem Gross, viele Seiten später, Martin Walsers „berühmt-berüchtigte“ Paulskirchenrede erscheinen läßt. Überhaupt: 755 Aphorismen - bei einer so hohen Zahl lauert natürlich immer die Gefahr der Inflation. Und so entgeht manche Notiz nur knapp dem Kalauer oder dem Gemeinplatz. Kein Zweifel: Gross pflegt einen geschliffenen Stil. Geschliffen bedeutet aber eben immer auch, daß manches weggeschliffen wird. So feiert die sprachliche Formulierung - mitunter - ihren puren Selbstzweck. Oder mancher Pointe wird ein Stückchen von der Wahrheit geopfert. Zumindest von der ganzen Wahrheit. Es ist kein Zufall, daß die Notizen im Jahr 1999 enden. Genauer: Es ist ein grausamer Zufall, denn Johannes Gross ist in jenem Jahr gestorben. Das vorliegende Buch kann als das literarische Vermächtnis dieses hochgebildeten, über die Maßen begabten und außergewöhnlich scharfzüngigen Publizisten gelten. Und eines k o n s e r v a t i v e n Intellektuellen? Diesen Titel hätte Gross bestimmt als Huldigung genommen. Wie fragwürdig jedoch derartige Zuschreibungen sind, mag - abschließend - diese Notiz des zu früh Verstorbenen nahelegen: „Mir kommt die Menschenrechtsdiskussion morastig vor. Daß ein Land wie China Hunderttausende vom Hunger befreit hat, zählt nicht gegen die Einkerkerung eines Dissidenten; daß in Saudi-Arabien Dissidenten gar nicht vorkommen, ebensowenig. Daß in unzähligen Ländern Frauen prinzipiell den Status unterer Menschen haben, wird erwähnt, doch nicht gebrandmarkt. Der öffentlichen Meinung scheint die Meinungsfreiheit die oberste von allen, höher als die Würde des Menschen, des Leibes Unversehrtheit, die Heiligkeit von Wohnung und Familie. Das ist verständlich; unverständlich nur, daß diese Rangfolge, den Verfassungen fremd, auch dem Publikum einzuleuchten scheint.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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