Eine Rezension von Manfred Horlitz

Kompendium über Fontanes Leben, sein Werk und seine Zeit

Christian Grawe/Helmuth Nürnberger (Hrsg.):
Fontane-Handbuch
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2000, 1055 S.

„Wer der Erzählwelt Fontanes auf die Spur kommen will, wird sich die Welt des Autors in ihrer Ganzheit zu vergegenwärtigen haben ...“ (S. 193)

Dieser Prämisse haben sich die Herausgeber und 22 namhafte Fontane-Forscher des In- und Auslandes weitestgehend verschrieben, indem sie das bisher u m f a s s e n d s t e Kompendium über Fontanes Leben, sein Werk und seine Zeit unter Berücksichtigung des neuesten Forschungsstandes vorlegen. Sie erheben trotzdem keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da bisher weder Fontanes Gesamtwerk noch eine umfassende Bibliographie (S. XV) erschienen sind. Außerdem befinde sich die Fontane-Philologie nach wie vor „in lebhafter Bewegung“, wie es das seit 1965 erscheinende Periodikum „Fontane-Blätter“ in jeder Ausgabe belegt. Auch auf „offene Felder“ der Forschung wird explizite verwiesen (S.724, 784 u. a.).

Herausgeber und Autoren sahen sich von Anfang an mit dem Problem konfrontiert, daß Fontanes Werk - im Unterschied zu anderen deutschsprachigen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts - eine ungewöhnlich stofflich-thematische und gattungsmäßige Vielfalt aufweist. Doch im Prinzip ist es durch eine übersichtliche Gliederung gelungen, nicht nur die vielseitigen Schaffensweisen, sondern auch die mannigfachen Beziehungen Fontanes zur literarischen und kulturpolitischen Öffentlichkeit seiner Zeit zusammenhängend darzustellen. Insofern vermittelt dieses Handbuch gleichermaßen ein Bild deutscher Kulturgeschichte im 19. Jahrhundert. Durch diese Konzeption ergibt sich für den Leser sowohl der Vorteil eines Gesamtüberblicks als auch ein Zugang zu speziellen Themen, weil die Beiträge in sich abgeschlossenen Themenkreisen zugeordnet sind, aber sich zuweilen auch aufeinander beziehen. Der fast durchgehend chronologische Aufbau ermöglicht den Vergleich von Sachverhalten und Vorgängen bei unterschiedlichen thematischen Aspekten. Dieser Vorzug impliziert jedoch den Nachteil, daß sich der Leser häufig mit Wiederholungen konfrontiert sieht, da die Autoren gelegentlich mit gleichen Fontane-Zitaten arbeiten oder zu analogen Wertungen gelangen (S. 134/135 zu S. 606- 608, S. 294/295 zu S. 780/781, S. 380 zu S.875, S. 453 zu S. 496 u. a.).

Das Handbuch umfaßt vier Komplexe, die in sich weiter untergliedert sind:
1. Theodor Fontane in seiner Zeit
2. Kulturelle Traditionen und Poetik
3. Das Werk
4. Die Wirkung

Die bibliographischen Angaben der thematischen Abschnitte umspannen in der Regel ein Jahrhundert Fontane-Forschung; allerdings wäre hier eine Beschränkung auf Wesentliches für den Studierenden vorteilhaft gewesen. Erschwert wird die Benutzung auch durch einen viel zu engen und kleinen Druck.

Der 1. Komplex bietet in komprimierter, aber anschaulicher Form zunächst Einblick in Fontanes „Leben und Persönlichkeit“, ferner in seine vielfältigen literarischen Tätigkeiten und Beziehungen zu Zeitgenossen. Ein nachfolgender umfangreicher Abschnitt, „Theodor Fontane - Zeuge seines Jahrhunderts“, dokumentiert tiefgründig, w i e der Autor die geschichtlichen Vorgänge beobachtet, wertet und wie sich diese in seinem Schaffen äußern. Gelegentlich verselbständigen sich jedoch historische Details (S. 159 f., S. 163, 171, 185) oder wiederholen bzw. überschneiden sich mit späteren Ausführungen (Komplex 3).

Das sich anschließende Thema, „Fontane und das literarische Berlin seiner Zeit“, vermittelt konzentriert und übersichtlich Fontanes b e s o n d e r e n Weg zum Romancier an seinen Beziehungen in Auswahl zu Verlagen, Vereinen und Institutionen, wobei leider sein jahrelanges Wirken für die „Vossische Zeitung“ ausgespart bleibt. Der letzte Abschnitt markiert unter chronologischer Sicht und im Diskurs mit der Zeitgeschichte Fontanes widerspruchsvolles Verhältnis zu jüdischen Mitbürgern. Der Aufsatz dürfte durch seine ausgewogene Argumentation erheblich zur Klärung des gegenwärtig diskutierten Problems beitragen. Fragwürdig erscheint dagegen das Wiederaufgreifen dieser Thematik bei der späteren Darstellung des Briefwerkes (S. 779- 817), weil es nicht zu neuen Erkenntnissen führt.

Der 2. Komplex bietet die Beziehungen Fontanes zu zeitgenössischen Autoren und deren Werken sowie zu literarischen und philosophischen Strömungen seiner Zeit. Besonders gewinnbringend sind die Nachweise, welchem Autor sich Fontane genähert, welchen Umgang er mit dessen Werk(en) pflegte und welche Einflüsse davon in seinem Werk spürbar sind. Diese Tiefe der Darlegung wird im folgenden Abschnitt „Fontane und die bildende Kunst“ nicht in gleicher Weise erreicht.

Hier wird auch ein Hinweis auf den Maler Carl Blechen vermißt, mit dessen Bildern sich Fontane mehrfach auseinandergesetzt und dem er einen umfangreichen Essay gewidmet hat. Dafür entschädigt der anschließende Aufsatz über „Fontanes Poetik“ um so mehr. Der Leser wird nicht nur mit der Vielschichtigkeit des Fontaneschen Realismusbegriffs - in Abgrenzung zum Naturalismus - vertraut gemacht, sondern erhält einen anschaulichen Einblick in die literarischen Techniken und in die Gattungsproblematik des Autors.

Ein 3. Komplex bietet - erstmalig (!) - a l l e Teile des überlieferten Fontaneschen Werkes, und zwar die Erzählprosa (mit 17 Romanen, frühen Erzählungen, Entwürfen); das Gedichtwerk, einschließlich der Balladen; die autobiographischen Schriften, die Tagebücher und Briefe; die journalistischen Arbeiten, untergliedert nach politischer Journalistik, nach den Publikationen über Großbritannien, den Wanderungen, den Büchern über die preußisch-deutschen Kriege 1864, 1866, 1870/71, den Theaterkritiken und den literatur- u. kunstkritischen Schriften.

Mit der Wesensbestimmung des Romanwerkes wird deutlich, daß Fontane den deutschen Roman am Ende des 19. Jahrhunderts - in Auseinandersetzung mit der realistischen Prosa seiner Zeit - „auf die Höhe des europäischen Realismus und an die Grenze der Moderne“ geführt hat (S. 467). Eine Untergliederung der chronologisch geordneten Erzählwerke nach Entstehung, Struktur, Thematik und Veröffentlichung erleichtert die Benutzbarkeit. Bei den Literaturangaben zu den überlieferten Entwürfen ( S. 704 f.) vermißt man die 1938 bereits durch H. Fricke veranstaltete Buchausgabe Die Likedeeler (mit reichhaltigem Quellenmaterial).

Einige Wertungen zu frühen Gedichten lassen es fragwürdig erscheinen, ob sich in Fontanes Übersetzungen des englischen Arbeiterdichters John Prince ein „um die friedliche Verbesserung der Welt berühmter Biedermeierdichter“ (S. 710) äußert, während sich in den Balladen nach englischen Geschichtsstoffen „antibiedermeierlicher Realismus“ (S. 712) zeige. Es ist auch richtigzustellen, daß sich die erwähnten „ersten handschriftlichen Gedicht-Sammlungen“ (S. 706) größtenteils n i c h t erhalten haben, sondern nur Kopien bzw. Abschriften; die Originale gehören zu den seit 1945/46 vermißten Beständen des Fontane-Archivs in Potsdam.

Der 4. Komplex bietet erstmalig eine generelle Übersicht zur Edition und Wirkung der Werke Fontanes von den Lebzeiten des Autors bis zur Gegenwart im deutschen und außerdeutschen Sprachraum sowie die Verbreitung seiner Schriften in audiovisuellen Medien. Fontanes Einfluß auf die Literatur des 20. Jahrhunderts wird an ausgewählten Beispielen dargeboten. Vorzüge und Mängel der Fontane-Edition bis 1945 und danach in beiden deutschen Teilstaaten werden exemplarisch nachgewiesen, ebenso der Wandel des Fontane-Bildes in der Forschung und allgemeinen Öffentlichkeit vom „preußischen Sänger der Mark“ zum kritisch-realistischen Romancier europäischer Prägung. Während die Fontane-Rezeption im westeuropäischen Raum ausgewogen interpretiert wird, bedarf jene für Osteuropa der Relativierung, zumal die Wertungen nicht widerspruchsfrei sind: „Der Romanschriftsteller Theodor Fontane ist im europäischen Osten kein Unbekannter mehr. Mit Ausnahme von Weißrussland, der Ukraine und Moldawien gibt es heute kein Land in Osteuropa, in dessen Sprache Fontanes Werke nicht übersetzt wurden.“ (S. 976) Abschließend heißt es jedoch: „Beim großen osteuropäischen Lesepublikum harrt der stille und humane Sänger der Mark (sic!) noch immer auf seine Entdeckung.“ (S. 980)

Bei der Nennung der Übersetzungen fehlen Estland u. a. Länder.

Resümee: Die Leistungen der Herausgeber und Autoren verdienen zweifelsohne hohe Anerkennung; jeder, der sich mit Fontane näher beschäftigt, wird an dieser Standardpublikation nicht vorbeikommen. Doch für die Benutzbarkeit des Studierenden wäre eine bessere inhaltliche Abstimmung verschiedener Beiträge sowie eine gelegentliche Entlastung - auch der Literaturangaben - wünschenswert gewesen. Für eine Nachauflage sind tabellarische Übersichten zu den wichtigsten Lebensdaten Fontanes, zu seinem Erzählwerk und vor allem zu Übersetzungen und Verfilmungen zu empfehlen. Als praktikable Hilfsmittel erweisen sich jedoch übersichtliche Personal- und Werkregister.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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