Eine Rezension von Norbert Podewin

Das Zerrbild eines „Mini-Stalin“

Mario Frank: Walter Ulbricht
Eine deutsche Biografie.
Siedler Verlag, Berlin 2001, 527 S.

„Sicherlich ist das wichtigste Anliegen einer Biographie die Darstellung des Charakters“, schrieb einst Mark Twain. Daran gemessen, ist für Leser, die sich aus entsprechender früherer Literatur ein Charakterbild schufen, Enttäuschung vorprogrammiert. Mario Franks Titelgestalt bleibt über mehr als 500 Seiten merkwürdig konturlos. Dem Leipziger Proletarierjungen zuzugestehen, daß er von früher Jugend an für sich und die Seinen des „dritten Standes“ lebenslang der Vision vom künftigen sozialistischen Deutschland anhing, bleibt ungesagt. So geraten denn alle politischen Überlebenskünste, die ja häufig mit mehr als nur Karriereblessuren für Kontrahenten endeten, zu Schurkenstücken eines hemmungslosen Ehrgeizlings.

Angekündigt werden neue Dokumentenfunde. So hat Frank die Protokolle des Sächsischen Landtages durchsehen lassen, dessen Abgeordneter Ulbricht von 1926 an war. Vergleicht man den „roten Faden“ seiner dortigen Auftritte, so wird die Kontinuität des - damals sehr verengten - politischen Weltbildes deutlich, die sich in der (von früheren Biographen untersuchten) Reichstagsperiode 1928- 1933 nahtlos fortsetzt. Dankenswert und wirklich neu sind Dokumente aus dem Russischen Zentralarchiv Moskau, die an Hand neuer Details vertiefte Einblicke in die Führungsquerelen der deutschen Kommunisten Mitte der dreißiger Jahre vermitteln. Das betrifft auch die internen Auseinandersetzungen in Frankreich um die Schaffung einer deutschen Volksfront. Die Schwierigkeiten und Mißverständnisse der aus diversen politischen Lagern um einen Konsens ringenden Intellektuellen, Künstler und Politiker sind hier weitgehend unausgeleuchtet und stark auf unüberbrückbare Standpunkte Ulbrichts und Münzenbergs reduziert. So kommt denn auch die wirklich neue, doch abstruse Wertung Franks zustande, die Volksfront sei „ganz wesentlich“ an Walter Ulbricht gescheitert. Zum Schurkenbild gehört auch die denunziatorische Ader, die ab 1938 in Moskau besonders pulsiert haben soll.

Die konträren Ansichten der „Großen Drei“ für das Deutschland nach dem 8. Mai 1945, die mit Roosevelts Tod am 12. April 1945 offenbar werden, bleiben unausgeleucht. Weder Trumans frühe, 1941 artikulierte, Ansicht, wahlweise Hitler und Stalin zu helfen, um „ihnen auf diese Weise zu gestatten, so viele wie möglich umzubringen“, noch Churchills Fulton- Rede vom März 1946, die Russen hätten „von Stettin an der Ostsee bis hinunter nach Triest an der Adria ... einen ,Eisernen Vorhang‘ über den Kontinent gezogen“, sind beim Autor gedanklich festgemacht und berücksichtigt. Dagegen unterstellt er Stalin - gegen eine Fülle seit Jahren vorhandener dokumentarischer Untersuchungen: „Er wollte die Grenze des sowjetischen Imperiums am Rhein und nicht an der Elbe ziehen. Ganz Deutschland sollte ein sozialistisches Regime nach sowjetischem Muster haben ...“ Dafür war ein unbarmherziger Statthalter unerläßlich - Ulbricht stand bereit. Aus dieser Sicht erhalten westalliierte wie westdeutsche Spalter von Lucius D. Clay über Konrad Adenauer bis zu Kurt Schumacher die Aura von „Verteidigern“ vor drohender sowjetischer Vereinnahmung. Die Gründerväter der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) und die Verfechter einer über Jahre betriebenen - und in den Westzonen steter Verfolgung ausgesetzten - Volkskongreßbewegung für Einheit und gerechten Frieden dagegen finden sich allesamt als Handlanger Stalins etikettiert. Mit dieser frühen SED hat Frank allenthalben Schwierigkeiten. Max Fechners „Abwahl“ aus dem Politbüro am 24. Januar 1949, um sich eines weiteren Sozialdemokraten in der Führung zu entledigen, erweist sich als Flop: Das mit diesem Tage geschaffene Gremium (!) bestand aus 7 Mitgliedern und 2 Kandidaten - 5 ehemaligen Kommunisten und 4 Sozialdemokraten. Friedrich Ebert wird - entgegen allen bekannten Belegen - einmal als „ein Parteigänger von Walter Ulbricht“ fehldeklariert, während an anderer Stelle das Gegenteil festgeschrieben ist.

Der Biograph hat - aus nicht erklärten wie ebenso unerklärbaren Gründen - den immensen Bestand „Ulbricht“ im früheren SED-Parteiarchiv (heute Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde) unberücksichtigt gelassen. Das verführte dazu, Ulbrichts potentesten Gegnern mit ihren Wertungen den Rang von Kronzeugen einzuräumen: Rudolf Herrnstadt, Ernst Wollweber und Karl Schirdewan geraten so zu selbstlosen Akteuren und schuldlosen Opfern. Allein stehen dürfte Frank mit seiner These, „wären sie sich einig gewesen ..., wäre die deutsche Nachkriegsgeschichte anders verlaufen“. Ulbricht bleibt aus dieser Sicht konstant der „Mini-Stalin“ auch nach dem Tode des Moskauer Vorbilds: „Der Sachse wie der Georgier waren kleine Männer, jeweils nur ungefähr 1,65 Meter groß. Beide hatten leichte körperliche Defekte: Stalin einen verkrüppelten linken Arm, Ulbricht ein Kehlkopfleiden, das sich in seiner Fistelstimme niederschlug ... Gleichermaßen zeichneten sich beide Parteiführer durch miserable rhetorische Fähigkeiten aus, die durch ihren jeweiligen Dialekt noch verschlimmert wurden ... “ Im Bildteil erscheint das von 1951 bis 1961 in Berlin existierende Denkmal des Georgiers, das sehr anschaulich die Behauptung, es handelte sich um „ein monumentales Denkmal für den Übermenschen“, widerlegt.

Unübersehbar sind auch stilistische Mängel. So wird nach den ersten 200 Seiten ausgiebig in Sprachniederungen verweilt. Wir begegnen dem „Stasi-Chef“, dem „Leiter des SED-Spitzelapparates“, es „trompetete Gerhard(t) Ziller heraus“, „Ulbricht besorgt seiner Tochter einen neuen Job“, da „hatte Ulbricht die Propagandamaschine der SED angeworfen“, und es „wurde ihm mit Gewalt eingetrichtert ...“ Geradezu peinlich aber bleibt der weitere Abstieg bei der Schilderung des Schicksals der Ulbricht-Adoptivtochter Beate - da ist permanent „Super“ von 1991 als Quelle gefragt mit „Lieber Papa, böse Lotte“.

Darüber hinaus bleiben dem Autor protokollarische und organisatorische Grundsätze wie Praktiken des Parteiapparates fremd. So ordnet er den für jede ZK-Tagung obligaten Auftaktbericht der abgelaufenen Periode - er wurde im Umlaufverfahren von jeweils einem anderen Politbüro-Mitglied erstattet - dem Ersten Sekretär zu, um dann zu folgern: „Nicht wie üblich der Erste Sekretär erstattete den Bericht des Politbüros ...“

„Die Biografie dieses Mannes, seine Zeit, die Geschichte der DDR haben mich über viele Jahre beschäftigt“, läßt Frank im Nachwort wissen. Den Beweis für diese Behauptung vermißt der Leser von Anbeginn bis zum Ende; das hier aufgezeichnete Leben gleicht einem Zerrbild. Man wünschte Mario Frank, er hätte vor Beginn dieser vorgelegten „Beschäftigung“ die Erkenntnis eines Autors wie Erich Mühsam verinnerlicht: „Nur im Zusammenhang mit dem Weltgeschehen haben die Begebenheiten im Leben des einzelnen Interesse für die Gesamtheit.“


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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