Eine Rezension von Eberhard Fromm

Toleranz - eine diffuse Gemengelage?

Rainer Forst (Hrsg.): Toleranz
Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer
umstrittenen Tugend.
Campus Verlag, Frankfurt/M. 2000, 285 S.

Der Sammelband, in der Reihe „Theorie und Gesellschaft“ als Band 48 erschienen, wendet sich einem hochaktuellen Thema zu. Doch allen Interessenten muß gleich am Anfang gesagt werden: Wer eine eindeutige oder gar einheitliche Antwort auf die Frage nach Inhalt, Umfang und Wirkung von Toleranz heute erwartet, wird enttäuscht sein. Vielmehr gewinnt der Leser einen ersten Eindruck davon, wie umstritten die Toleranz bereits unter ihren Theoretikern ist, wie vielfältig ausdeutbar sie erscheint, wie man bei einer ersten Betrachtung gar von einer diffusen „Gemengelage“ sprechen kann.

Der Herausgeber Rainer Forst von der Universität Frankfurt am Main hat hier zwölf Beiträge zusammengefaßt, in denen Autoren aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien und den USA in recht unterschiedlicher Art und Weise theoretische Fragen der Toleranz behandeln. Dabei wird in den einzelnen Beiträgen auch immer wieder auf Positionen anderer Autoren eingegangen, so daß man von einem Disput zu Grundfragen der Toleranz sprechen kann. Man könne zwar mit diesem Band, so der Herausgeber in seiner Einleitung, den Streit um die Toleranz nicht beilegen, „er kann jedoch dazu beitragen, die fundamentalen philosophischen Dimensionen der Kontroversen um den Begriff zu beleuchten und ... das hervorzuheben, was in der gesellschaftlichen Praxis auf dem Spiel steht, wenn es um die Forderung nach Toleranz geht“.

Für das Verständnis der verschiedenartigen Toleranzauffassungen ist es wohl am besten, mit dem Beitrag von Rainer Forst „Toleranz, Gerechtigkeit und Vernunft“ zu beginnen. Forst will Toleranz „als Tugend der Gerechtigkeit und als Forderung der Vernunft“ verstanden wissen. Er unterbreitet vier mögliche Konzeptionen der Toleranz: die „Erlaubnis-Konzeption“, in der es darum geht, daß eine Autorität oder eine Mehrheit einer Minderheit erlaubt, nach ihren Überzeugungen zu leben; die „Koexistenz-Konzeption“, in der sich etwa gleich starke Gruppierungen gegenüberstehen und Kompromisse im Umgang mit- und nebeneinander eingehen, wobei Toleranz hier vorrangig pragmatisch-instrumentell verstanden wird; die „Respekt-Konzeption“, die von moralisch begründeter Achtung gegeneinander ausgeht; schließlich die „Wertschätzungs-Konzeption“, in der die jeweilig anderen nicht nur als Gleichberechtigte respektiert, sondern in ihren Überzeugungen als ethisch wertvoll geschätzt werden.

Paul Ricoeur bestimmt in seinem bereits 1988 erschienenen Artikel „Toleranz, Intoleranz und das Nicht-Tolerierbare“ den Verzicht als das entscheidende Merkmal von Toleranz. In dem Beitrag „Die Dialektik der Toleranz“ von Rüdiger Bubner erscheint Toleranz als „eine negative Leistung des Verzichts auf Einspruch“, als „eine Zier der Reife, aber keine tragfähige Basis im ernsten Konflikt“. Und bei Joseph Raz („Autonomie, Toleranz und Schadensprinzip“) bezeichnet Toleranz „die Zügelung einer Handlung ..., die dem Empfänger unangenehm sein dürfte, jedoch als an sich moralisch wertvoll angesehen wird und auf einer Abneigung oder Feindseligkeit gegenüber dieser Person oder einem Merkmal ihres Lebens beruht“. So werden also unterschiedliche Positionen vorgeführt und diskutiert. Toleranz im Zusammenhang mit der politischen Legitimation der Moderne (Ortfried Höffe) ist ebenso ein Thema wie der religiöse Pluralismus (Avishai Margalit); Toleranz wird als politische oder moralische Frage (Bernard Williams) oder im Zusammenhang mit Mitleid und Gnade (Martha C. Nussbaum) erläutert. „Ist das Christentum notwendig intolerant?“ fragt Perry Schmidt-Leukel; und Anna Elisabeth Galeotti untersucht die Konflikte, die um das Tragen von Kopftüchern durch Mädchen islamischen Glaubens in öffentlichen Schulen in Frankreich entstanden sind („Zu einer Neubegründung liberaler Toleranz“). Wendy Brown läßt sich von Herbert Marcuses Artikel über repressive Toleranz aus dem Jahre 1965 zu „Reflexionen über Toleranz im Zeitalter der Identität“ anregen und erklärt den Toleranzdiskurs insgesamt für antidemokratisch. Michael Walzer schließlich („Politik der Differenz“) erläutert in Kurzfassung sein 1998 erschienenes Buch Über Toleranz. Von der Zivilisierung der Differenz. Dabei umreißt er jene vier institutionellen Muster der Praxis von Toleranz, die er als Modelle für tolerante Gesellschaften in der Geschichte und Gegenwart gefunden hat: das Vielvölkerreich, den Bundesstaat, den Nationalstaat und die Einwanderunsgesellschaft.

Nimmt man die in diesem Band versammelten unterschiedlichen und auch gegensätzlichen Ansichten in ihrer Gesamtheit, dann kann man schon die bange Frage von Bernard Williams verstehen, ob denn Toleranz strenggenommen überhaupt möglich sei. Aber ob Toleranz nun als politische oder moralische Tugend, als individuelle oder gesellschaftliche Position, als ein Wert oder ein Verzicht angesehen wird, eines ist unumstritten: In der gesellschaftlichen Praxis tut Toleranz not!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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