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Was bleibt von Preußen übrig?

Im Gespräch mit Frank-Lothar Kroll

Herr Kroll, mit Ihrem soeben erschienenen Buch „Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates“ haben Sie einen äußerst bemerkenswerten und diskussionswürdigen Beitrag zum Preußenjahr geleistet. Das Buch ist eine Sammlung von Beiträgen, dessen erster 1987 entstanden ist. 1996 haben Sie den Louis-Ferdinand-Preis des Preußeninstitutes erhalten. Und daß Sie Mitglied der Preußischen Historischen Kommission sind, ist offensichtlich keine Formsache. Wie kamen Sie, 1959 in Aachen geboren, zum Thema Preußen, wo doch Preußen 1947 abgeschafft wurde?

Im Rheinland begegnet man häufig der Meinung, mit Preußen nie ganz zurechtgekommen zu sein. Doch das ist ein Vorurteil. Die Rheinländer sind mit den Preußen so schlecht nicht gefahren. Ich habe keine direkten Familienbeziehungen zu Preußen, obwohl der Großvater aus Posen kam. Aber in Bonn habe ich bei Walther Hubatsch studiert. Das hat mich geprägt. Hubatsch war damals einer der wenigen deutschen Historiker, die sich überhaupt mit Preußen beschäftigten. Mich hat schon früh die Ambivalenz dieses Staates interessiert, die Ambivalenz von Macht und Geist, von Militärstaat und Kulturstaat. Darüber hinaus war es ganz konkret die Person Friedrich Wilhelms IV., des „Romantikers auf dem Thron“, die mich im Studium fasziniert hat. Daraus ist dann meine Doktorarbeit geworden. Und wie so oft, lassen einen die Themen dann lange nicht los.

Das geistige Preußen suchen Sie vor allem am Wirken von Friedrich II., der Reformer unter Friedrich Wilhelm III., von Friedrich Wilhelm IV, von Bismarck, von Friedrich III. und von Wilhelm II. aufzuzeigen. Oberflächlich betrachtet, fallen zwei Dinge sofort ins Auge: Einerseits fehlt der meiner Meinung nach wirkmächtigste König in Preußen, Friedrich Wilhelm I., und andererseits nimmt Friedrich Wilhelm IV., Sie haben eben gesagt, warum, einen zentralen Platz in Ihrer Textsammlung ein.

Zweifellos handelt es sich bei meinem Buch nicht um eine lückenlose Geistes- und Kulturgeschichte Preußens, diese fehlt nach wie vor. Die Forschung hat sich jahrzehntelang stark konzentriert auf militär-, verwaltungs- und sozialgeschichtliche Themen, jedenfalls im Westen. Die preußische Kultur- und Geistesgeschichte kam darüber zu kurz. Das überließ man den Feuilletons der großen Zeitungen. Friedrich Wilhelm I., den Sie ansprachen, hat das geistige Preußen nicht nachhaltig geformt. Disziplin, Pflicht und Arbeit - das war seine Welt. Er hörte zwar gerne Musik, aber nur, um bei den Klängen seiner Hofkapelle einzuschlafen. Auch betätigte er sich als Maler, doch hat er dabei vorzugsweise seine Langen Kerls porträtiert. Allerdings besitzt sein Verhältnis zum Pietismus eine geistige Qualität, die vielfach verkannt wird. Es ist sein Verdienst, den Pietismus in Preußen wirkmächtig gemacht zu haben. Ein sozial verantwortungsvolles Christentum war ganz nach seinem Geschmack. Doch reicht das schon aus, ihn dem geistigen Preußen zuzuordnen? Nein, hier war das Zeitalter Friedrich Wilhelms IV. wichtiger. Dieser Monrach besaß stilprägende Qualität, von seinem ästhetischen Geschmack zehren wir noch heute, er hat die europäische Geisteswelt für diesen mittel- und ostdeutschen Staat zu interessieren und in großer Zahl auch zu engagieren vermocht.

Mit Interesse habe ich die von Ihnen dargestellten vier Argumente - das religiöse, das philosophische, das herrschaftstheoretische und das staatspolitische - zur Begründung der Idee der Toleranz bei Friedrich II. ebenso zur Kenntnis genommen wie dessen darauf begründete Politik und ihre historische Begrenztheit. Daß Friedrich II. sich dabei auf die französische Aufklärung berief, hatte wesentlich damit zu tun, daß das französische Denken natürlich auf diesem Gebiet am fortschrittlichsten war. Erklärt sich aber damit allein, daß er gegenüber der deutschen Ideenwelt ignorant bis intolerant war, oder sehen Sie noch andere Gründe für diesen Sachverhalt?

Friedrich der Große hat sich den Zugang zur deutschen Geisteswelt dadurch verstellt, daß er die deutsche Sprache nicht beherrschte, nicht beherrschen wollte. Er kannte nur das Deutsch des frühen 18. und späten 17. Jahrhunderts. Das erschien ihm barbarisch. Er hat nicht registriert, daß gerade in seiner Regierungszeit hier ein entscheidender Wandel eingetreten ist. Denken Sie an Lessing oder Goethe, sie waren Zeitgenossen des Königs. Friedrich blieb ganz der Welt der französischen Aufklärung verpflichtet. Das hat man ihm in der Zeit der deutschen Nationaleinigung vielfach als Makel ausgelegt. Doch ihm lag ein Denken in nationalen Kategorien gänzlich fern. In Frankreich wird Friedrich übrigens bis heute sehr geschätzt, auch als Philosoph. Er ist eine europäische Gestalt.

Sie haben mehrfach zu Recht darauf verwiesen, daß Preußen schon weit früher als die USA ein Einwanderungsland von Rang war und daß die Einwanderungspolitik Friedrich II., wie auch die seiner Vorgänger, wesentlich vom staatspolitischen Interesse der Nützlichkeit geleitet war. Die CDU/CSU hat gerade ein Papier zur Einwanderungspolitik im Deutschland des 21. Jahrhunderts vorgelegt. Ist das eine Rückkehr zur preußischen Politik?

Man kann aus dem preußischen Beispiel in der Tat viel lernen: Toleranz nützt einem Staat, sie ist dem Zusammenleben seiner Bürger zuträglich. Diese Erfahrung wurde in Preußen gemacht, und sie ist entgegengesetzt der französischen, spanischen oder österreichischen Haltung in jener Zeit. Dort war damals die Staatseinheit nur denkbar unter der Voraussetzung einer religiösen Einheit. Aus Salzburg wurden Bürger evangelischen Glaubens noch im 18. Jahrhundert vertrieben. In Preußen dagegen war man der Meinung, daß ein Staat von der religiösen Vielfalt profitieren könne. Die preußischen Könige gewährten Toleranz nicht nur aus Gründen einer allgemeinen abstrakten Moralität, sondern in dem klaren Bewußtsein, daß sie qualifizierter ausländischer Arbeitskräfte bedurften, um ihr Land nach vorne zu bringen. Umsonst war die Toleranz in Preußen freilich nicht zu haben. Nichts war in diesem Staat umsonst zu haben, er hatte nichts zu verschenken. Aber wer an seinem Aufbau mitwirken wollte, wer Einsatz zeigte und sich mühte, dem wurde Schutz und Freiheit des Gewissens gewährt - zu einer Zeit, als man andernorts davon nur träumen konnte.

In Ihren Beiträgen belegen Sie eindrucksvoll, daß ab Friedrich Wilhelm III., mit Ausnahme von Friedrich Wilhelm IV., das geistige Preußen kaum noch von den preußischen Königen geprägt wird. Oder genauer ausgedrückt: Diese reagieren eher, als sie agieren. Am Beispiel sowohl der Stein-Hardenbergschen Reformen, insbesondere hinsichtlich ihrer gebremsten und ausgedünnten Durchsetzung, als auch der Revolution von 1848 erweisen sich bei allem Fortschritt die konservativen Kräfte, gemeint ist das ostelbische Junkertum, vorerst als die, die obsiegen. Ich denke dabei insbesondere an die Bauernbefreiung und das nichtgehaltene Verfassungsversprechen. Welcher preußische Geist obsiegte hier?

Der preußische Staat ist nach 1815 ein anderer als zuvor. Es kamen große Gebiete im Westen hinzu, deren wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Entwicklungsstand von der Situation in Ostelbien sehr verschieden ist. Dem Liberalismus in Preußen tat das gut. Die Bauernbefreiung, die Sie ansprechen, war deshalb so problematisch, weil man sie nicht durch entsprechende Sozialmaßnahmen abfederte. Die freigesetzte Landbevölkerung zog in die Städte und verarmte dort rasch. Das trug zur Verschärfung der sozialen Lage bei - mit Auswirkungen bis in die Revolution von 1848 hinein. Die ganz in frühliberalem Geist konzipierten Hardenbergschen Agrar- und Wirtschaftsreformen hatten höchst ambivalente Folgen. Der Liberalismus in Preußen war ein sozial weitgehend blindes Phänomen, zumindest in der ersten Jahrhunderthälfte. Man soll ihn nicht überbewerten. Umgekehrt besaßen die Konservativen der Vor-Bismarckzeit durchaus ein soziales Gewissen. In den 1850er und 1860er Jahren gab es geradezu eine konservative Strategie zur Lösung der sozialen Frage: Idee und Programm eines sozialen Königtums, einer sozialen Monarchie. Auch das war preußischer Geist!

Friedrich Wilhelm IV. nimmt, wir erwähnten es schon, einen zentralen Platz in Ihrem Buch ein. In mehreren Beiträgen arbeiten Sie überzeugend heraus, worin des Königs Verständnis von Monarchie und Gottesgnadentum wurzelte und daß sein Rückgriff auf das Mittelalter der hilflose Versuch war, sich den Anforderungen des industriellen Kapitalismus nach Liberalismus und Demokratie zu verweigern. Andererseits hat er politische Perspektiven im Kopf - ich denke an die nationale Frage - , die durchaus nicht rückwärtsgewandter Natur sind. Während die Reformen unter Friedrich Wilhelm III. zumindest den Hauch einer Revolution von oben vermittelten, rang die Revolution 1848 Friedrich Wilhelm IV. zwar eine Verfassung ab, die aber ihm wie auch den nachfolgenden preußischen Königen nicht mehr als ein jederzeit zu zerreißendes Papier bedeutete. Ist es nicht so, daß sich die Tendenz zum Verfassungsbruch bis Wilhelm II. als Prinzip preußischer Politik hält - Preußentum als Wortbruch?

Nein, eine solche Sicht macht es sich zu leicht. Wortbruch im Zusammenhang der Nichteinlösung eines Verfassungsversprechens ist ja schon Friedrich Wilhelm III. zum Vorwurf gemacht worden. 1810 hat es im Zuge der Reformbestrebungen ein solches Versprechen gegeben. Es wurde zweimal wiederholt, 1812 und 1815. Die Gründe für seine Nichteinlösung sind vielfältig. Friedrich Wilhelm IV. als erster konstitutionell regierender preußischer Monarch hat den Eid, den er 1850 auf die Verfassung abgelegt hat, ernst genommen. Ein Wortbruch kam für ihn schon aus religiöser und moralischer Skrupulosität nicht in Frage. Innerlich akzeptiert hat er das Prinzip der Verfassungsstaatlichkeit allerdings nie. Dabei hätte ein Mittragen der konstitutionellen Monarchie die Stellung des preußischen Königtums durchaus stärken können. Es ist doch bemerkenswert, daß überall dort, wo die Monarchen sich damals zurückgenommen haben, das Königtum erhalten blieb - in England und Belgien ebenso wie in den skandinavischen Staaten. Dort indes, wo die Monarchien stark schienen, sind sie heute längst verschwunden. Je stärker sich der Monarch hinter sein Ministerium zurückzog, desto unangreifbarer wurde er, desto weniger Fehler konnte er begehen, desto mehr an moralischer Autorität und überparteilicher Akzeptanz gewann er. Die Einsicht in solche Zusammenhänge blieb Friedrich Wilhelm IV. verwehrt. Er hat sich auch nach 1850 ständig eingemischt. Aber die Verfassung gebrochen hat er nicht.

Auch seine drei Nachfolger haben sich an die Verfassung gehalten: Wilhelm I. aus Einsicht, Friedrich III. aus Überzeugung, Wilhelm II. aus Notwendigkeit. Die Vorstellung vom persönlichen Regiment ist eine Fiktion - eine Idiosynkrasie des Herrn Röhl. Wilhelm II. war viel zu schwach und wankelmütig, um ein solches persönliches Regiment dauerhaft durchhalten zu können. Und im Fall der Daily-Telegraph-Affäre von 1908 hat er, wie man längst weiß, strikt konstitutionell gehandelt. Sein krypto-absolutistisches Gehabe hat hier allerdings nach außen einen anderen Eindruck vermittelt. Aber das war eine Hülse und nicht der Kern. So bleibt von allen preußischen Wortbrüchen nur die Nichteinlösung des Verfassungsversprechens durch Friedrich Wilhelm III. übrig.

Hier möchte ich widersprechen. Sicher, der direkte Verfassungsbruch ist selten, doch wurde er nicht selten in Kauf genommen, wenn nicht gar provoziert. Ich denke da zum Beispiel an Bismarck.

Bismarck nimmt den Verfassungsbruch in Kauf, das ist richtig. Die vielzitierte Lückentheorie ist ein Versuch, ihn mehr oder weniger galant zu kaschieren. Doch das hat Bismarck nach seinem Sieg 1866 mit der Bitte um Idemnität im Abgeordnetenhaus ja auch öffentlich eingestanden. Und die liberalen Verteidiger der Verfassung haben dieses fragwürdige Verfahren mehrheitlich akzeptiert. Sie hätten das nicht gemußt, wenn sie es nicht gewollt hätten!

Aus Ihrem Vergleich zwischen Bismarck und Friedrich Wilhelm IV. kann man den Schluß ziehen: Während Friedrich Wilhelm IV. an die Wiedererweckung des Mittelalters glaubte, hat Bismarck diese Vision lediglich für seine Politik benutzt. Beginnt eigentlich mit dieser Moral das Preußentum unterzugehen?

Ja. Niemand hat die politische Kultur der preußischen Monarchie dauerhaft so sehr beschädigt wie Bismarck. Und niemand wiederum hat das subtiler erkannt und decouvriert als sein Zeit- und Streitgenosse Theodor Fontane. Ihm verdanken wir die literarisch gültige Darstellung des Übergangs von altpreußischem Denken zu neudeutscher Großmannssucht. Aufschlußreich ist hier ein Vergleich zwischen Bismarck und seinem politischen Mentor und späteren Gegner Ernst Ludwig von Gerlach, dem Gründer und Cheftheoretiker der konservativen Partei Preußens nach 1848. Gerlach hat noch moralische Prinzipien sittlichen Handelns in der Politik allen machtstaatlichen Erwägungen vorangestellt. Bismarck hingegen hat ihm schon in den 1850er Jahren darauf geantwortet, er halte eine solche Einstellung für anachronistisch; Machtpolitik sei wichtiger als Prinzipienpolitik. Die liberalen Anhänger einer deutschen Nationalstaatsgründung sahen das genauso - das Jahr 1866 ist deshalb ein echtes Epochenjahr. Es spaltete Deutschland, und es spaltete auch die Parteigruppen in Preußen: die Liberalen in jene, die Bismarcks Weg mitgingen, und in jene, die ihn verwarfen. Aber das waren nicht viele. Bei den Konservativen sah es ähnlich aus, auch sie folgten größtenteils Bismarcks Politik - nur Gerlach selbst blieb standhaft, er war bis zu seinem Tod einer der schärfsten Gegner des Reichskanzlers und hat Krieg und Rechtsbruch, wie Bismarck sie betrieb, niemals gutgeheißen. Übrigens hat Fontane die Dinge auch hier sehr klar gesehen. Daß Bismarck den Jugendtraum des Dichters erfüllte, die deutsche Nationaleinheit, hat Fontane ihm nie vergessen, aber eben auch nicht, daß Bismarck infolge seines persönlich fragwürdigen politischen Stils zu den Totengräbern der politischen Kultur in Deutschland zählte. Rechtsbruch, Charakterlosigkeit, Mangel an Edelmut - all das warf Fontane ihm vor.

Lassen Sie mich im Vergleich zwischen Friedrich Wilhelm IV. und Bismarck und zwischen Wilhelm II. und den beiden Erstgenannten noch etwas ergänzen: Im Vergleich zwischen Bismarck und Friedrich Wilhelm IV. resümieren Sie, daß beide ihre politischen Ziele noch mit einer Politik der Selbstbeschränkung zu erlangen suchten. Selbst Bismarck, dessen Politik voller Brüche und politischer Opportunität ist, sucht gleichwohl die Möglichkeiten, die sich im bieten, real einzuschätzen, und überschätzt niemals seine Möglichkeiten. Im Gegensatz dazu wird unter Wilhelm II. Politik nur noch durch das eigene imperiale Machtinteresse bestimmt, unabhängig vom Kräfteverhältnis zwischen den Großmächten und den eigenen Potenzen. Politik im Preußen des 19. Jahrhunderts von Friedrich Wilhelm IV. bis zu Wilhelm II. bedeutet nicht nur ein schrittweises Aufgeben von Prinzipien, sondern auch zunehmender Realitätsverlust. Ist dies nicht die Konsequenz preußischen Geistes in der Politik?
Wenn wir also nun die Schritte gehen von Friedrich II. über Friedrich Wilhelm IV. über Bismarck und über Wilhelm II., dann gibt es ja auch hier eine geschichtliche Konsequenz?

Das ist zu teleologisch gedacht. Aber zweifellos gibt es hier entscheidende Akzentverlagerungen, deren Gesamtrichtung eine ungute gewesen ist. Friedrich der Große hat für die Folgen des Rechtsbruch von 1740 teuer bezahlt. Und er hat in seinem langen Regentenleben immer wieder darüber nachgedacht, wie man als Staatsmann Politik und Moral miteinander in Einklang bringen kann. Er hat es sich damit nicht leichtgemacht. Die Trennung zwischen Staatsmoral und Privatmoral, der Hinweis darauf, daß für das Handeln des Politikers andere moralische Kriterien gelten als für das Handeln des Privatmannes, war eine ihn allerdings selbst nicht recht befriedigende Antwort auf die Frage nach dem problematischen Spannungsverhältnis von Politik und Moral, von Recht und Macht. Bismarck hat dann später eine ähnliche Antwort gegeben. Friedrich Wilhelm IV. und Ernst Ludwig von Gerlach hingegen standen auf einem anderen Standpunkt. Für sie gab es keine Trennung zwischen Privatmoral und Staatsmoral. Beides gehörte zusammen. Politik hatte nach moralischen Grundsätzen zu handeln, und das hieß für den Kreis um Friedrich Wilhelm IV., nach christlichen Grundsätzen. Auch für den internationalen Staatenverkehr sollten die Sitten- und Moralgebote des Christentums Geltung besitzen. Das ist eine heute gänzlich anachronistisch wirkende Auffassung. Aber sie hatte Profil.

Herr Kroll, das geistige Preußen ist in Ihrem Buch wesentlich auf die geistigen Strömungen reduziert, die das Handeln der Könige, der Minister, der Berater und der Konservativen im besonderen prägte. Das geistige Preußen lebte jedoch auch in Reibung mit liberalen, demokratischen und später sozialistischen Ideen. Deshalb in stetiger Auseinandersetzung oder Unterdrückung mit ihnen befaßt. Warum spielt dies in Ihrem Buch keine Rolle?

Weil das von der Forschung schon oft behandelt worden ist. Ich glaube zudem, daß es wichtig ist, Preußen aus den tragenden Prinzipien seiner Staatlichkeit heraus zu erklären - der Krone, den Regenten, der Bürokratie, Armee, Verwaltung und dem damit verbundenen intellektuellen Umfeld. Man kann den preußischen Staat doch nicht immer nur im Reflex derer sehen, die sich von ihm absetzten oder ihn bekämpften. Den Vorwurf, eine „Geschichte von oben“ zu schreiben, muß ich dabei wohl in Kauf nehmen.

In Ihren Darlegungen über Politik und Moral suchen Sie den Eindruck zu erwecken, das Wilhelminische Zeitalter hätte durchaus eine Presse- und Meinungsfreiheit besessen, also eine öffentliche Kontrolle von Politik und Moral möglich gemacht. Was die Politik anbetrifft, möchte ich dies bestreiten. Auf die wirklichen innen- und außenpolitischen Entscheidungen hatte diese Öffentlichkeit, schon aus verfassungsrechtlichen Gründen, keinen tatsächlichen Einfluß. Auf die Moral hatte die öffentliche Diskussion über Eulenburg und andere auch kaum gewirkt. Das wäre das eine Phänomen. Zum Widerspruch direkt reizt in diesem Zusammenhang Ihre Feststellung, wonach es eigentlich das Bildungsbürgertum der wilhelminischen Epoche ist, das die preußischen Tugenden wie „Arbeitsethos, Fleiß, Einsatz für das Gemeinwesen, Anteilnahme am öffentlichen Wohl, Sparsamkeit und Erwerbseifer“ ergänzt bzw. zunehmend durch solche Prinzipien ersetzt hat wie „Härte, Unerbittlichkeit, Gewaltbejahung, Kampfbereitschaft“. Zum Widerspruch reizt auch Ihre Feststellung, nicht am Rechtsstaat habe es gemangelt, sondern an einer mentalitätsbezogenen Erosion des bürgerlichen Tugendkanons mit ihren Darwinschen Zügen, der Deutschland ins imperialistische Verderben und Preußen in den Untergang geführt habe. Dies hieße, die Wurzeln dieser Erscheinungen im geistigen Preußen zu bestreiten.

Es ist üblich, zu beklagen, daß nach der deutschen Nationalstaatsgründung 1871 eine Verpreußung Deutschlands stattgefunden habe, daß Deutschland allmählich dem preußischen Ungeist zum Opfer gefallen sei. So etwas hört man vor allem in Bayern und in Sachsen gern. Man kann die Dinge aber auch umkehren: Preußen ist an Deutschland zugrunde gegangen, mit den neudeutschen Weiterungen traten die altpreußischen Tugenden Schritt für Schritt zurück, die abstoßenden Züge nationaldeutschen Imperialstrebens überlagerten die positiven Eigenschaften altpreußischer Gesinnung. Im Blick auf das spätzeitliche Preußen der wilhelminischen Ära ist es nach wie vor bemerkenswert, auf welch hohem Niveau sich die öffentliche Diskussion über Fragen der politischen Kultur damals bewegt hat, was alles im obrigkeitsstaatlich regierten Reich Wilhelms II. gesagt, gedacht, geschrieben werden konnte. Es gab lebendige Kritik, gerade auch in der Presse, an den Defekten und Deformationen des Systems. Fatal war freilich der Umstand, daß daraus dem politischen Leben keine unmittelbaren Reformimpulse erwuchsen. Es gab, wenn man so will, keinen Transmissionsriemen zwischen öffentlicher Kritik und politischem Establishment, wodurch eine grundlegende Veränderung des Verfassungslebens längerfristig hätte bewirkt werden können. Und den politischen Parteien im Kaiserreich fehlte es an Kraft und Gelegenheit, sich hier gestalterisch einzubringen.

Allerdings muß man auch sehen, daß die Verfassungswirklichkeit der späten Kaiserzeit, zumal nach 1908, nicht mehr unbedingt mit den Gegebenheiten des Verfassungstextes von 1871 zusammenstimmte. Es hatten sich zahlreiche neue Institutionen gebildet - denken Sie an die obersten Reichsbehörden, die Reichsämter - , Einrichtungen, die in der Verfassung gar nicht vorkamen. Auch das Verhältnis zwischen Parlament, Parteien und Regierung war in der Ära Bülows und Bethman Hollwegs zumeist von Kooperationsbereitschaft geprägt. Kaum ein bedeutendes Gesetz ist im Reichstag nach 1900 ohne einen breiten parlamentarischen Konsens verabschiedet worden.

Ich möchte da noch etwas nachfragen. Nach Ihrer Darlegung sind die preußischen Tugenden Schritt für Schritt unter dem Einfluß des Darwinismus und unter dem Einfluß bildungsbürgerlicher imperialer Wertvorstellungen verdrängt und durch Untugenden ersetzt worden, demzufolge sich im Wilhelminischen Zeitalter der preußische Geist verabschiedete. Daraus ließe sich bissigerweise schlußfolgern, daß der preußische Geist nicht stark genug war zu widerstehen. Ist es aber nicht so, daß das, was im Wilhelminischen Zeitalter stattfand, durchaus schon im geistigen Preußen begründet, wenigstens latent vorhanden war?

Ich sehe nicht, wo sich solche Untugenden im geistigen Preußen - sagen wir: etwa der Reformzeit oder der Epoche Friedrich Wilhelms IV - manifestierten. Der qualitative Sprung findet im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts statt. Ab 1890 beginnt dann die eigentliche Mentalitätsverbiegung, die massive Wertedeformierung.

Sie fing aber bei den Preußen früh an. Friedrich II. war es doch, der die Offizierslaufbahn und die höheren Beamtenpositionen im Gegensatz zu seinen Vorgängern für das Bürgertum sperrte und nur dem Adel vorbehielt. Insofern fing hier an, was unter Wilhelm I. und Wilhelm II. zum beklagenswerten Zustand wurde, daß ein guter Bürger, wenn er überhaupt etwas gelten wollte im Preußen-Deutschland, mindestens geadelt und Reserveoffizier sein mußte. Alles andere galt nichts.

Ich möchte nochmals betonen, daß im politischen Koordinatensystem Deutschlands mit dem Eintritt ins Wilhelminische Zeitalter neuartige Elemente auftreten, die im alten Preußen keinen Platz hatten, undenkbar und folglich nicht vorauszusehen waren: Nationalismus, Weltpolitik, Imperialstreben, Flottenmanie. Auch die Imprägnierung der Gesellschaft mit militärischem Geist gewann dadurch eine neue Qualität. Das ist übrigens in jenen Jahren nicht nur ein spezifisch deutsches Phänomen, sondern ein in allen europäischen Nationalstaaten zu beobachtender Entwicklungstrend. Frankreich ist hier vor allem zu nennen. Mit dem Einschwenken aufs nationalstaatliche Prinzip gelangt die altpreußische Tradition an ihr Ende. Das alte Preußen war eben kein Nationalstaat, sondern ein Land, das allen Ethnien offenstand und all jene aufnahm, die sich ihm zuwandten. Kein deutscher Staat hat derart viele Ausländer in Dienst genommen wie der preußische.

Das heißt, die preußischen Tugenden sind ideelle Werte universaler Natur und nicht an einen Nationalstaat gebunden. Das vereinte multikulterelle Europa der Nährboden für die Wiedererweckung preußischer Tugenden?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin kein Prophet.

Es war ja nur spekulativ. Zu Recht heben Sie hervor, daß die preußischen Tugenden in ihrem historischen Beziehungsrahmen zu sehen sind. Die Tugenden waren Ausdruck ganz bestimmter gesellschaftlicher Bedürfnisse und natürlich auch einer Moralvorstellung, der man sich zumindest wie den 10 Geboten annähert. Insofern lebt schon der im preußischen Sinne tugendhaft, der sich diesen Wertvorstellung annähert, ohne sie grundsätzlich zu verletzen. Das wirft die Frage auf, welche „preußischen Tugenden“ wären denn heute wünschenswert und welche sind vor dem Hintergrund der realen politischen, ökonomischen und geistigen Beziehungen überhaupt „lebensfähig“?

Preußen ist ein Phänomen der Geschichte. Seine Spuren sind verweht, es ist nur noch in der Erinnerung präsent, und auch diese schwindet zusehends. Die meisten preußischen Tugenden sind mit der heutigen politischen und gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit unvereinbar. Die Idee der Freiheit in der Gebundenheit etwa, das kantische Prinzip des Dienstes am großen Ganzen, widerspricht der auf Selbstverwirklichung des einzelnen angelegten Räson der modernen Massendemokratie total. Andere Momente hingegen, etwa die Idee der Rechtsstaatlichkeit oder die Konzeption des Sozialstaates, oder auch ein ganz spezifischer Umgang mit Geistigkeit und Kultur, gehören zu den Tugenden des preußischen Staates, die man als Traditionselemente in der Gegenwart wiederfinden möchte. Jeder möchte das.

Sie haben mir vorhin das Stichwort zu meiner letzten Frage gegeben. Beim Lesen Ihres Buches „Das geistige Preußen“ habe ich immer nach Kant gesucht und Kant überhaupt nicht gefunden. Preußen und Kant - unvereinbar? Oder vernachlässigbar?

Preußen und Kant - das ist ein unerschöpfliches Thema. Zu seinen Füßen saßen in der Aula der Königsberger Universität die späteren Minister, Offiziere und Verwaltungsbeamten Preußens. Sie haben in den Jahren nach 1806 entscheidend am Neuaufbau des zusammengebrochenen Staates mitgewirkt. Heute folgen Minister, Offiziere und Verwaltungsbeamte lieber den Empfehlungen der Wirtschaftsexperten als dem Rat der Philosophen. Vielleicht ist das ja auch die bessere Variante im Umgang mit den Problemen unserer Zeit. Und zeitgemäß wollte man in Preußen immer sein.

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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