Analysen · Berichte · Gespräche · Essays

Kurt Wernicke

Unpreußische Sicht auf
die Berliner Märzrevolution aus
dem Blickwinkel „von unten“

Inmitten des in Berlin und Brandenburg allgegenwärtigen „Preußen-Jahres“ kann bereits ein allererstes Resümee zur Bewertung des Rückgriffes auf Leistungen und Fehlleistungen eines seinerzeit durch die Sieger der Geschichte mit Schimpf und Schande aus dem nationalen Guthaben eliminierten deutschen Staates gezogen werden: 300 Jahre Preußen sind keineswegs - trotz der zu Beginn des Jubiläumsjahres von den regierenden Oberhäuptern zweier deutscher Bundesländer in ihren Festreden vorgegebenen Würdigung - Anlaß geworden zu ausschließlichen Jubelarien. Es hat im Gegenteil auf allen Seiten - durchaus auch bei den „bekennenden Preußen“ - schon eine genügend große Anzahl von Stimmen gegeben, die die enge Verzahnung von Fortschritt und Beharrung, Toleranz und Doktrinarismus, Weltoffenheit und provinzieller Beschränktheit in der Geschichte Preußens zur Sprache gebracht haben. Allerdings ist in diesem Kontext nur ganz bescheiden die Dialektik von Preußens Rolle auf dem verschlungenen Pfad zwischen „Revolution von unten“ und „Revolution von oben“ auf dem Wege zum deutschen Nationalstaat zwischen 1848 und 1871 angesprochen worden. Dabei hätten doch sowohl die am 25. Februar 1947 aktiv gewordenen Verdammer wie die am 18. Januar 2001 offiziell hervorgetretenen Lobredner - jeder für sich und jeder mit Berechtigung - Grund genug gehabt, auf die preußische Schlüsselrolle im Geschehen der Deutschen Revolution 1848/49 einzugehen. Schließlich war es ja gerade Preußen, wo sich der Spannungsbogen zwischen „Revolution von unten“ und „Revolution von oben“ auf den Weg zu dem von der Geschichte geforderten deutschen Nationalstaat am deutlichsten manifestierte: Zwischen der Berliner Revolution vom März 1848 und der Olmützer Punktation vom November 1850 (als Preußen vor zaristischem Machtwort seinem Plan abschwören mußte, mit einer von ihm beherrschten Deutschen Union die Ernte der Nationalbewegung von 1848/49 in seine Scheuer zu fahren) liegt das kurze Auf und das lange Ab der ganzen Bewegung exemplarisch vor den Augen des geschichtskundigen Betrachters.

Es ist schon erstaunlich, wie schnell zwischen dem 150. Jahrestag der Deutschen Revolution von 1848 (1998) und dem 300. Jahrestag der Gründung des Königreichs Preußen (2001) die schicksalsschwere Rolle Preußens im Verlauf der Revolution zwischen März 1848 und Sommer 1849 im allgemeinen Geschichtsbild in den Hintergrund getreten ist: Wurde 1998 gern an die von der Deutschen Nationalversammlung verabschiedeten „Grundrechte des deutschen Volkes“ erinnert, die als Kind der 1848er Revolution den Bogen zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung schlagen und damit die Wurzeln der heutigen Bundesrepublik in der demokratischen und nationalen Bewegung von 1848 verankern, so tritt im „Preußen-Jahr“ die zu den Grundrechten von 1848 gehörige Rückseite der Medaille beschämt zurück: Es war immerhin Preußen, das mit seiner Zurückweisung der von der Nationalversammlung angetragenen Kaiserkrone durch den Mund seines königlichen Herrn, mit seiner Ablehnung der in demokratischem Prozeß entstandenen Reichsverfassung mitsamt ihrer demokratischen Grundrechte durch seine Staatsregierung, mit den blutigen Henkersdiensten seiner Militärmaschinerie an den Kämpfern für die Reichsverfassung erst den demokratischen und dann auch den nationalen Impetus aus der Deutschen Bewegung von 1848 mit eiskaltem Kalkül herauseskamotierte, wenngleich es mit der am zaristischen Einspruch dann 1850 endgültig gescheiterten „Deutschen Union“ noch eine obrigkeitliche Lösung für die Nationalbewegung anvisierte.

Der Keim für solch nachlässigen oder gar beschönigenden Umgang mit einem bedeutenden Abschnitt in der Geschichte Preußens - eben seiner gravierenden, wenn nicht gar zentralen Rolle zuerst in der aufsteigenden, dann in der absteigenden Linie des Verlaufs der Revolution von 1848/49 - wurde allerdings dort, wo das „Preußen-Jahr“ seine bedeutenden regionalen und lokalen Anbindungen findet (in Berlin und Brandenburg) schon im Gedenkjahr für die Revolution gelegt. Während das Bundesland Brandenburg wenigstens einige begrenzte Aktivitäten zum 150. Jahrestag aufzuweisen hatte, mußten die Berliner Historiker und Heimatkundler, die über den Stellenwert der Revolution von 1848/49 in der Geschichte ihrer Stadt unterrichtet sind, 1998 und 1999 mit Wehmut und Neid nach Baden blicken, wo man in der breitesten Öffentlichkeit die Erinnerung an den 150. Jahrestag eines Geschehens gepflegt hat, das nun in wachsendem Maße in das Geschichtsbild der Deutschen als zentrales Ereignis der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert eingeht - wozu die richtunggebende Rede von Bundespräsident Roman Herzog beim zentralen Festakt von Bundesregierung und Bundestag am 18. Mai 1998 in der Paulskirche zum Gedenken an den 150. Jahrestag der feierlichen Eröffnung des ersten gesamtdeutschen Parlaments nicht wenig beigetragen hat. Der Senat von Berlin hat sich dagegen einer offiziellen Würdigung des 150. Jahrestags der Berliner Märzrevolution entzogen und es bei der Benennung eines erst mühselig unter Beseitigung eines technischen Denkmals neu geschaffenen platzähnlichen Areals als „Platz der Märzrevolution“ bewenden lassen. Auch diese Namensgebung (sie bezieht sich auf das an dem neuen Platz gelegene Gebäude der „Singakademie“, wo von Ende Mai bis Mitte September 1848 die Preußische Verfassunggebende Versammlung ihr Domizil hatte) muß man als eine ursprüngliche Maßnahme sehen, mit der dem Druck von Bürgerinitiativen, den Bezirksverordneten zweier Innenstadtbezirke und dem Rat der Bezirksbürgermeister ausgewichen werden sollte, den Platz vor dem Brandenburger Tor in „Platz des 18. März 1848“ umzubenennen. Das hatte der Senat über Jahre per einsamer Entscheidung des zuständigen Verkehrssenators nicht zugelassen - bis eine neue Zuständigkeit zu einem anderen Senator führte, der endlich grünes Licht für die Benennung der historischen Örtlichkeit nach dem 18. März gab und die offizielle Umbenennung im Juni 2000 ermöglichte. Ausstellungen zu Berlin im Jahre 1848 hat es in der Bundeshauptstadt nur im lokalen Rahmen einiger Heimatmuseen und beim Förderverein „Alter Berliner Garnisonfriedhof“ gegeben. Zwei im Umfang größere und materialreichere Ausstellungen verdankte Berlin dem Bundesarchiv (im Haus II der Staatsbibliothek, Potsdamer Straße) und dem Landesarchiv Berlin (in dessen Stammhaus I nahe dem Wittenbergplatz). Die Stiftung Stadtmuseen konzentrierte sich nicht unberechtigt mit einer entsprechenden großen Ausstellung auf den 100. Todestag Theodor Fontanes, und das überlegt schon 1986 in Berlin angesiedelte zentrale deutsche Geschichtsmuseum, das Deutsche Historische Museum an der geschichtsträchtigen Straße Unter den Linden, brillierte mit einer Ausstellung zu der deutschen China-Kolonie Tsingtau und einer Schau zum Tonfilmschaffen der dreißiger Jahre „Sag beim Abschied leise ,Servus‘!“ - Seine von ihm erwartete große Ausstellung zum Thema der 150. Wiederkehr des Völkerfrühlings von 1848 auf deutschem Boden schenkte es der Nation mit einer imposanten Schau nicht in Berlin, sondern in Frankfurt/M. Der Grund für diese Ortswahl ist leicht zu eruieren: Frankfurt/M. und seine Kirche St. Paul stehen für das erste deutsche Parlament, die Deutsche Nationalversammlung von 1848/49, wo in mehrmonatiger zäher Debattenarbeit die „Grundrechte des deutschen Volkes“ aus der Taufe gehoben wurden. Im Spannungsfeld zwischen „Straße“ und „Parlament“ wurde für die führenden Organe unserer Republik und für deren zentrales Geschichtsmuseum das letztere zum Bezugspunkt für nationales Gedenken. Das verwundert nicht unbedingt angesichts des Vorrangs der repräsentativen Demokratie gegenüber der direkten Beteiligung der Bürger an der Gestaltung von Leitlinien der Politik in der Verfassung und der aus ihr resultierenden Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland.

Und dennoch: Einen 18. Mai 1848 als umjubelten Festtag des Zusammentritts einer in ganz Deutschland frei gewählten Nationalversammlung hätte es mit Sicherheit nicht gegeben, hätte nicht exakt zwei Monate zuvor „die Straße“ in der preußischen Hauptstadt Berlin ihr Blut verspritzt im Kampf mit den Vertretern des zu jenem Zeitpunkt einzig potenten Gewalthaufens des die Revolution perhorreszierenden Konservativismus - dem preußischen Militär. Zwar war Anfang März 1848 in Deutschland eine schwelende revolutionäre Krise in die akute Revolution umgeschlagen, wobei der unmittelbare Anstoß zur Auflösung des lange anstehenden Reformstaus aus dem schon weiter entwickelten Frankreich kam, wo ein Knoten aus sozialen Widersprüchen platzte, die sich in Deutschland erst gerade in einigen wenigen Regionen ankündigten, in denen die Industrielle Revolution Fuß gefaßt hatte. Der Ablauf der ersten konkreten revolutionären Aktionen im Frankreich benachbarten deutschen Südwesten war ähnlich: Volksversammlungen, Demonstrationen, von wartenden Massen unterstützte Petitionen an den jeweiligen Fürsten (sogenannte Sturmpetitionen) mit Forderungen, die auf demokratische Freiheiten und dringende soziale Maßnahmen hinausliefen. Die revolutionäre Welle erreichte eine erhebliche Durchschlagskraft, weil sich der politisch orientierte Liberalismus des Bürgertums auf die sozial motivierte Bewegung der Unterschichten stützen konnte, die sich oft - eine schwere Hungerkrise 1846/47 war fast nahtlos im Herbst 1847 in eine Wirtschaftskrise übergegangen - in einer mehr als prekären Lage befanden. Da den Obrigkeiten überzeugende Machtmittel gegen eine derart losgebrochene Massenerhebung fehlten, wichen sie zurück, bewilligten die Forderungen und bildeten die Regierungen durch die Einbeziehung prominenter Liberaler aus der bisherigen Opposition um.

Noch war allerdings P r e u ß e n ein gewichtiger Trumpf im Spiel der Rückwärtsgewandten: Seine Armee war intakt, und sein König, zutiefst von seinem Gottesgnadentum überzeugt, war dem Prinzip des Verfassungsstaats mit garantierten politischen Grundrechten abhold. Aber bereits seit der ersten Märzdekade hatten sich in Preußens Hauptstadt auf Versammlungen und in Petitionen Forderungen des Volkes artikuliert, die in Südwestdeutschland bereits erkämpft worden waren: Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinsfreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Volksbewaffnung, eine Volksrepräsentation für ganz Deutschland; dazu kam mit „Staatsbürgerlicher Gleichberechtigung aller religiösen Bekenntnisse“ ein berlinspezifischer Forderungspunkt, der in einer Stadt mit Hunderten jüdischen, christkatholischen, altlutheranischen, freireligiösen und atheistischen Intellektuellen nicht verwundern konnte. Nach einer Woche erregter Debatten tauchte auch erstmals am 10. März eine „Arbeiteradresse an den König“ auf, die auf Ausgleich im „Mißverhältnis von Arbeit und Kapital“ orientierte. Am 13. März waren in Berlin erstmals 10 000 Menschen auf den Straßen, die sich hinter die Forderungen stellten, und das spezifische Preußentum wußte nur mit der Waffe darauf zu antworten: Seit diesem Tag floß jeden Abend das Blut von Zivilisten in Berlins Straßen, das Militär ging mit brutaler Gewalt gegen friedlich zusammenstehende oder von Versammlungen heimkehrende Einwohner vor. Abend für Abend hieb Kavallerie mit der Klinge ein, wurden Fliehende niedergeritten, Haustüren eingeschlagen. Seit Mittwoch, dem 15. März, wurde sogar geschossen, so daß bis zum 17. März schon mindestens vier Berliner ihr Leben eingebüßt hatten. Die Emotionen schaukelten sich gegenseitig hoch, die sonst fast als militärtoll anzusprechenden Berliner reagierten zunehmend gereizter auf die Militärbrutalitäten. Nun war allerdings das Potential gegen militärische Gewalt aufmuckender Einwohner in Berlin besonders groß, denn die zu Jahresbeginn 1848 rd. 400 000 Einwohner zählende Stadt war eine der vier Pilotregionen der Industriellen Revolution in Deutschland mit den für dieses Gesellschaftsstadium charakteristischen sozialen Verwerfungen. PC-gestützte Programme haben im letzten Jahrzehnt errechnet, daß von den 385 000 zivilen Einwohnern etwa 5 % zum reichen Adel und Bürgertum zu zählen waren, etwa 12 % den Mittelschichten angehörten (gutgestellte Handwerker und Kaufleute, Beamte, Fuhrherren, Rentiers), aber ca. 83 % den Unterschichten zuzurechnen waren (darunter 22 % Gesellen, 11 % Fabrikarbeiter, 14 % proletarisierte Handwerksmeister - der Rest von 36 %, soweit er nicht als Dienstpersonal einzuordnen ist, wäre also Subproletariat (Gelegenheitsarbeiter, Straßenhändler, Vaganten, Arbeitslose, Arbeitsscheue). Noch war übrigens bei den Unterschichten gut in Erinnerung, daß im April 1847 dreitägige Hungertumulte (die sogenannte Kartoffelrevolution) lange vergeblich geforderte behördliche Maßnahmen zur Preisregulierung der Grundnahrungsmittel Kartoffeln und Brot bewirkt hatten.

Auf Erfahrungen aus der „Kartoffelrevolution“ griffen auch die städtischen Selbstverwaltungsorgane Magistrat und Stadtverordnetenversammlung zurück, als sie eine im April 1847 nur angedachte Maßnahme am 15. März wieder bei den Staats- und Militärbehörden ins Gespräch brachten: die Aufstellung einer bürgerlichen Schutztruppe, die sich mit der doppelten Autorität des Mitbürgers und des Schutzbeamten zwischen Militär und demonstrierender Einwohnerschaft postieren und so Deeskalation bewirken sollte. Beide Ansprechpartner stimmten - wenn auch das Militär mit Skepsis - zu, und so nahmen am 15. März die ersten, am Folgetag dann fast tausend „Friedensengel“ (natürlich unbewaffnet, nur mit weißer Armbinde und weißem Stab ausgestattet) ihren Dienst in den Straßen der Innenstadt auf. Da sie aber zumeist nur die Zielscheibe von Hohn und Spott abgaben und vom Militär nicht für voll genommen wurden, waren sie nun die richtigen, weil frustrierten, Ansprechpartner, um den Kern einer auch für Berlin vorgesehenen Demonstration zur Überreichung einer „Sturmpetition“ abzugeben. Aus dem Frust der „Friedensengel“ ging jene Kundgebung vor dem Berliner Schloß hervor, deren militärisches Auseinanderjagen am Nachmittag des 18. März 1848 das Signal für die Berliner Barrikadenkämpfe gab.

Daß diese Kämpfe nach ca. 15stündigem Gemetzel mit dem Abzug des Militärs - zunächst von den Straßen, dann innerhalb zweier Tage auch aus der Stadt - endeten, ist dem Umstand zuzuschreiben, daß die Berliner unterhalb der adligen wie der Geldaristokratie es in großer Einmütigkeit satt hatten, sich als Freiwild für hauende, stechende und schießende preußische Soldaten betrachtet zu sehen. Deshalb gab es neben den sichtbaren realen ca. 200 Barrikaden die ganze Stadt durchziehende unsichtbare Barrikaden der Angst und des Abscheus vor Militärbrutalität. Diese letzteren waren es wohl in erster Linie, die es möglich machten, daß 14 000 Soldaten die höchstens 5 000 aktiven Kämpfer an den realen Barrikaden - ganz wenige Studenten und Intellektuelle, in der Hauptsache Arbeiter, verarmte Handwerksmeister, Handwerksgesellen - nicht zu besiegen vermochten. Mehr als 250 Tote hatten die Barrikadenkämpfe dem Volk beschert - bürgerlicher Herkunft waren darunter nur ganz wenige, und von diesen hatte ein erheblicher Prozentsatz gar nicht an den bewaffneten Auseinandersetzungen teilgenommen, sondern war als Unbeteiligter vom Militär massakriert worden. Mehr als vier Fünftel aller Toten waren Handwerker, Arbeiter, Hausangestellte, Gelegenheitsbeschäftigte - ein sicherer Hinweis darauf, wer als aktive Kraft der demokratischen Revolution am 18./19. März 1848 in den Straßen Berlins gekämpft und den Sieg davongetragen hatte: „die Straße“. Sie konnte sich zugute halten, daß die am 18.und 19. März und danach für Preußen „gewährten“ neuen demokratischen Rechte ihrem Einsatz zu verdanken waren ...

Die tatsächliche Erfüllung der am 18. März alle vereinigenden Forderung „Militär zurück!“ brachte aber sofort die Diskrepanz zwischen den Zukunftsvorstellungen des Berliner Bildungs- und Besitzbürgertums mit seinem Schweif an Beamten, Hof- und Militärlieferanten bis hinab zu den noch einigermaßen situierten Handwerksmeistern einerseits und den städtischen Unterschichten andererseits zutage. In die momentane Einheitsfront gegen die Militärdiktatur auf den Straßen und Plätzen hatte sich ein offenbares „Mißverständnis“ eingeschlichen: das von der Deckungsgleichheit aller (oder doch wenigstens der meisten) sozialen Interessen in einer Residenz- und Gewerbestadt von ca. 400 000 Einwohnern! Dieses momentane Mißverständnis wurde schon am Tage nach der Barrikadennacht aufgeklärt: Den in der Sozialstruktur weiter oben Angesiedelten wurde nun schlagartig klar, daß ja jetzt jede Schranke gegen die drohende Begehrlichkeit der - zudem noch bewaffneten und siegestrunkenen - „Straße“ fehlte und eine prompte Reaktion auf diesen bedrohlichen Zustand erforderlich war. Bei allen Wünschen für eine Aufbrechung des starren bürokratischen Systems und dessen Ersetzung durch ein System, in dem dem honetten Staatsbürger doch eine gewisse Form der Mitsprache bei Angelegenheiten der Staatsverwaltung zustehen sollte, war an derart gewichtiges Veränderungspotential „von unten“ nicht gedacht gewesen. In Windeseile wurde eine Gegenstrategie entwickelt, die in drei Richtungen wirkte.

Die erste Richtung sorgte für die schnellstmögliche Aufstellung einer bürgerlichen bewaffneten Schutzmacht, aus der Angehörige der städtischen Unterschichten ausgeschlossen waren; das geschah durch die Aufstellung der Bürgerwehr, in die sich nur im Chaos der ersten Tage auch Einheiten einschleusen konnten, in denen wirkliche Barrikadenkämpfer präsent waren (Fliegendes Korps des Handwerkervereins, zwei oder drei Rotten des Studentenkorps, Korps der jungen Kaufmannschaft). Als erste Aufgabe sahen es die honetten Bürger in den Bezirksbataillonen der Bürgerwehr (wie übrigens auch im Magistrat) an, Barrikadenkämpfern trickreich ihre Waffen abzunehmen und sogenannte Wühler mittels Arrest zu pazifizieren. So konnte es geschehen, daß schon zwei Tage nach dem Sieg der Volkskräfte über das Militär die eben erst formierte Bürgerwehr einen der Wortführer der demokratischen Linken vor dem und am 18. März, Rudolf Schramm, in die Stadtvogtei verbrachte, weil er bei dem famosen Umritt des Königs am 21. März unter schwarzrotgoldenen Fahnen dem gaffenden Publikum zugerufen hatte, es solle dem König nicht glauben, denn er lüge. Die zweite Richtung knüpfte unmittelbar an diese erste an: Typischerweise gerade von der Bürgerwehr ging bereits am 23. März die Initiative aus, doch um Gottes willen wieder Militär nach Berlin zu holen - das Berliner Bildungs-, Besitz- und Spießbürgertum war durch den Mund seiner Bürgerwehrkommandeure geradezu versessen darauf, vor der Welt zu demonstrieren, daß Berlin keineswegs mit der Armee gebrochen habe. Angesichts solcher Bekundung konnte die Öffentlichkeit außerhalb Berlins schon schlußfolgern, daß der ganze Barrikadenkampf am 18./19. März vielleicht doch wirklich eine Art „Betriebsunfall“ gewesen sei. Dem Drängen der auf Ruhe bedachten Bürger seiner Residenz konnte der König natürlich nicht widerstehen (insgeheim erörterten auch die Stadtverordneten, daß das Wiedereintreffen von Soldaten in Berlin wohl Gewerbe und Kommerz der Stadt guttun könne): Am 30. und 31. März zogen wieder Militäreinheiten in Berlin ein - wenn auch nicht jene Garderegimenter, die am 18./19. März in Berlin gekämpft hatten.

Die dritte Richtung lag ebenfalls auf psychologischer Ebene: Sie betrieb sofort machtvolle Gehirnwäsche durch die verzerrte Darstellung der sozialen Zugehörigkeit der siegreich gebliebenen Barrikadenkämpfer. Seit dem 19. März war es bei Publizisten und Literaten jeglicher Couleur absolutes Muß, die Einigkeit aller - aber wirklich aller! - Schichten der Berliner Einwohnerschaft beim Bau und bei der Verteidigung der Barrikaden pastos auszumalen. Der tatsächlich für einen einzigen Fall belegte Fakt, daß auch ein vornehm gekleideter Herr mit Hand angelegt hatte beim Bau einer Barrikade - er wurde ausgewalzt bis zum letzten. Dieser nicht namentlich belegte Barrikaden bauende Vertreter der Oberschicht geistert durch die zeitgenössischen Reportagen zum Barrikadenkampf wie das inzwischen sprichwörtliche „alte Mütterchen“ als Ingredienz journalistischer Leistungen bis in unsere Zeit. Der von federfleißigen Literaten ins unermeßliche vervielfältigte gutgekleidete Herr suggerierte die harmonische Einheitsfront der Veränderungswilligen, die mit Ausnahme namentlich bekannter Bösewichter (zumeist in der bisherigen engeren Umgebung des eo ipso „guten“ Königs) sich nach dem Sieg auf den Barrikaden brüderlich in den Armen zu liegen hatten und diese alles überdeckende Brüderlichkeit dann auch am 22. März bei der Beisetzung der zivilen Revolutionsopfer vorbildlich demonstrierten. Eine Ende März 1848 verbreitete Farblithographie, die die verdienstvollen Erringer der neugewonnenen Freiheit unter der Überschrift „Frei und Einig!“ feierte, zeigte in brüderlicher Verbundenheit einen gutgekleideten Bürger, einen Angehörigen der Berliner Schützengilde in seiner schmucken Vereinsuniform mit der Gildenfahne und einen Studenten im vollen Wichs - fürwahr das typische soziale Spiegelbild der eher plebejisch zu nennenden Berliner, die hinter den Barrikaden gestanden hatten! Die Hetzjagd aller Fraktionen des Bürgertums gegen den Herausgeber der „Berliner Zeitungshalle“, Gustav Julius (1810- 1851) - er hatte es gewagt, in seinem Leitartikel vom 23. März der Verbrüderungsbesoffenheit die nüchterne Wahrheit entgegenzustellen, daß es im realen Leben der Gesellschaft längst den Bruch zwischen Bürgern und Arbeitern als zwei sich entgegenstehenden Klassen gäbe - fügt sich paßrecht in dieses Erscheinungsbild ein. Die massive Gehirnwäsche zur Einlullung der gefürchteten Unterschichten mittels bewußt geschürten Brüderlichkeitstaumels erfüllte jedoch ihren Zweck, und die deutschlandweit kolportierte Verzerrung der Wahrheit hinsichtlich der wirklichen sozialen Herkunft und den damit verbundenen Interessen derer, die auf den Barrikaden Berlins die konstitutionelle Ära für Preußen eingeleitet und damit erst die Wahlen für eine Deutsche Nationalversammlung frei gemacht hatten, setzte sich in den Köpfen fest. Als der bekannte badische Liberale Friedrich Bassermann (1811- 1855) im November 1848 Berlin besuchte, um sich im Auftrag der Deutschen Nationalversammlung als Abgeordneter und Unterstaatssekretär ein Bild von den dortigen Verhältnissen nach der Verhängung des Belagerungszustandes zu machen, war er äußerst schockiert über den Anblick obskurer „Gestalten“, die der in seinem Leben offenbar noch nicht in einer von der Industriellen Revolution erfaßten Großstadt geweilt habende Buchhändler aus dem beschaulichen Mannheim nur mit Mißtrauen und Schrecken wahrzunehmen vermochte: Diese als „Bassermannsche Gestalten“ in die Geschichte eingegangenen Angehörigen der Berliner Unterschichten waren es gerade gewesen, die am 18./19. März in den Berliner Straßenkämpfen einen Sieg errungen, die preußische Militärmacht desavouiert, der beabsichtigten preußischen Interventionspolitik den Boden entzogen und so überhaupt erst die Wahl und den Zusammentritt einer Deutschen Nationalversammlung im Mai und die dortige Verabschiedung der „Grundrechte des deutschen Volkes“ im Dezember ermöglicht hatten. Davon wollten jedoch Besitz- und Bildungsbürger als die Nutznießer der demokratischen Errungenschaften und bürgerlichen Freiheiten - die zwar nach 1849 zum Teil von der Reaktion aufgeweicht, aber durch den 1848/49 erkämpften Übergang zum Verfassungsstaat immerhin staatsrechtlich verbrieft wurden - nichts wissen. Im Mittelpunkt ihres Interesses am Fortgang der Ereignisse nach der Barrikadennacht stand die Fixierung auf die Wiederherstellung des gewohnten Ganges von Ruhe und Ordnung und die Regelung der neuen freieren Verhältnisse unter Ausschaltung jedes weiteren Drucks „von unten“.

Im Nachhall zum Jubiläumsjahr 1998 wurde von dem Düsseldorfer Historiker Wolfgang Dreßen ein Band vorgelegt, der explizit diesen Druck „von unten“ zum Gegenstand seiner Untersuchung macht (Gesetz und Gewalt. 1848: Revolution als Ordnungsmacht, Berlin, Aufbau Taschenbuch Verlag 1999, 233 S.). Er bringt ein wenig Begleitmusik ein zu den Festansprachen, die 1998 wie 2001 die Öffentlichkeit erreichten - eine „Kleine Nachtmusik“ zwar nur, aber ein beachtenswertes Ingredienz in dem breiten Orchester der von jubelnd bis zu kritisch variierenden Töne. In ihrem Hauptteil - dem Kapitel „Die Krise: eine Berliner Revolution“ - widmet sie sich der ziemlich lückenlosen Schilderung jener Berliner Vorkommnisse in den Revolutionsmonaten zwischen März und November, in denen das Wissen um ihren Anteil am März-Sieg in den Straßen der preußischen Metropole den hiesigen städtischen Unterschichten das Bewußtsein lieh, im Recht zu sein, wenn sie gegen ihnen aufgezwungene Disziplinierungsmaßnahmen der städtischen und staatlichen Obrigkeit aufmuckten. Dabei bringt der Verfasser kaum wirklich neue Fakten vor die Augen des Lesers - aber die kompakte Zusammenstellung der Zusammenstöße bringt doch eine neue Qualität in der Beurteilung des Stellenwerts der Ereignisse für das Abgleiten der Berliner demokratischen (was eo ipso heißt: b ü r g e r l i c h - demokratischen) Bewegung bis in den famosen „passiven Widerstand“ (vom Revolutionskind „Kladderadatsch“ treffend persifliert als „aktive Feigheit“) - gepaart mit Maulheldentum: Die ganze Freiheit war insbesondere dem an Mitspracherecht in Staatsangelegenheiten interessierten Bürger der preußischen Metropole höchst verdächtig, wenn sie öffentliche Kundmachungen der städtischen Unterschichten zuließ, offen zur Schau getragene Verachtung für das bürgerliche Arbeitsethos beförderte und ihn Tag für Tag mit „Undiszipliniertheiten“ konfrontierte! In den Mittelpunkt des bürgerlichen Interesses rückte so sehr schnell die Disziplinierung der „zügellosen Masse“ - zunächst mittels Bürgerwehr, dann (ab Juli) auch mittels der polizeilichen Schutzmannschaft, bestens flankiert von der auch durch die Märzerrungenschaften nicht im geringsten angetasteten Justiz, die munter weiter nach den Aufruhrparagraphen des Allgemeinen Landrechts von 1794 und den diversen diesen Teil des Gesetzbuches ausbauenden Königlichen Kabinettsordern anklagte und verurteilte. Und in nur wenig mehr als einem halben Jahrhundert hatte sich das Preußische Allgemeine Landrecht - diese aufklärerische Antwort Preußens auf die Französische Revolution - als Basis eines auf der allgemeinen Gültigkeit von Recht organisierten Staatswesens in den Hirnen der Staatsuntertanen so festgesetzt, daß an eine aus der Märzrevolution resultierende Infragestellung des Rechtsbodens gar nicht gedacht wurde - mit der einen rühmlichen Ausnahme von Gustav Adolph Schlöffel (1828- 1849), der die Gültigkeit vormärzlicher Rechtsnormen in toto ablehnte, was ihn im Mai 1848 nicht vor der Verurteilung zu halbjähriger Festungshaft wegen „Aufruhr“ schützte, wobei die Anklage durch einen Staatsanwalt vertreten wurde, der als Linksliberaler in die Preußische Verfassunggebende Versammlung gewählt worden war. Schlöffel erfährt dann bei Dreßen auch eine ausführliche Würdigung - nicht nur als Protagonist des radikalen Bruchs mit der vormärzlichen Ordnung, sondern auch als Wortführer des Berliner Subproletariats, wie es sich in den Notstandsarbeitern auf den Weddinger Rehbergen (den „Rehbergern“) so bürgerschrecklich manifestierte. Der Überblick über die Berliner Sozialunruhen von 1848 führt zu dem nicht abwegigen Schluß, daß sich im Umgang mit ihnen die für etliche Monate b ü r g e r l i c h e Obrigkeit auf städtischer wie staatlicher Ebene genau in das Entwicklungsschema einpaßte, innerhalb dessen seit dem Heraufdämmern der Industriegesellschaft Beamte, Unternehmer und Pädagogen in trauter Eintracht daran wirkten, die Unterschichten der Gesellschaft für die bürgerliche Konkurrenz fit zu machen, d. h. für den kapitalistischen Produktionsprozeß zu disziplinieren. In diesem Sinne ist - nach Dreßen - das Revolutionsjahr 1848/49 ganz besonders in Preußen als eine Erfolgsgeschichte für die - bürgerlichen - Disziplinierer zu sehen, die das im März erworbene Selbstbewußtsein der Unterschichten mittels Arrest, Hungerpeitsche und Muskete in eine sich ebendort verfestigende Erfahrung des schließlichen Triumphes von „Recht und Ordnung“ über „Chaos und Anarchie“ umzuwandeln vermochten: ein gewichtiger Sieg des Besitzbürgertums auf der ganzen Linie und ein Totaltriumph der bürgerlichen Realisten über die Utopisten, die als ideales Ziel der ganzen Bewegung einen demokratischen Nationalstaat mit parlamentarischem Gefüge gesehen hatten. Es war dieser Sieg der bürgerlichen Realisten über „die Straße“ und deren aufmüpfige Benutzer mit dem von diesen praktizierten Druck „von unten“, der den Boden bereitete für das am Ende der fünfziger Jahre emphatisch aufgenommene Buch von August Ludwig Rochau (1810- 1873), das seine Ausrichtung durch seinen Titel Realpolitik mitteilte, und für das in den sechziger Jahren schließlich zustande gekommene Bündnis der Nationalbewegung mit der von Bismarck betriebenen preußischen Interessenpolitik, die zur bejubelten Reichsgründung von 1871 führen konnte.

Dreßens Sympathie liegt angesichts seiner Besichtigung ganzer Jahrhunderte eindeutig bei denen, die sich den diversen „Erziehungsmaßnahmen“ verweigerten - bei den (aus bürgerlicher Sicht) Außenseitern der sich formierenden Leistungsgesellschaft, als da sind Vaganten, Bettler, Räuber, bekennende Faulenzer usw. Das Ganze ergibt keinen uninteressanten Blick auf die ja allgemein als Erfolgsgeschichte gesehene, nun schon ein rundes Halbjahrtausend währende Formierung und Festigung der kapitalistisch-marktwirtschaftlichen Gesellschaft - es hätte nicht des offenbar explizit für Begriffsstutzige angefügten Nachworts „Eine kleine Polemik gegen realistische Historiker“ bedurft, um zu verstehen, daß Dreßen nicht weniger anpeilt, als in die Fußstapfen von Gottfried Arnold (1666- 1714) zu treten, der mit seiner „Kirchen- und Ketzergeschichte“ die herkömmliche Sicht auf den Entwicklungsgang des Christentums umzukippen unternahm, indem er die Geschichte der Ketzerbewegungen zum eigentlichen Leitfaden der Kirchengeschichte machte und so eine Betrachtungsweise „von unten“ einführte. Die solcherart angeregte Debatte über eine gänzlich andere Sicht auf Vorgeschichte und Geschichte der Industriegesellschaft soll an dieser Stelle jedoch nicht geführt werden - zumal fraglich ist, ob sie in Gang kommen wird. Hier soll nur der s a c h l i c h e Inhalt der Untersuchung zur Kenntnis genommen und demzufolge konstatiert werden, daß ein bis dato nicht eigentlich vernachlässigter, aber in dieser Kompaktheit noch nicht abgearbeiteter Aspekt des Berliner Revolutionsjahrs 1848 den darauf bezüglichen Publikationen des Jubiläumsjahres nachgereicht wurde. In die im „Preußen-Jahr“ tobende Debatte zu den ja mitnichten aus der Luft gegriffenen, aber z. T. kontrovers eingeschätzten preußischen Tugenden hat Dreßens Aspekt jedenfalls noch keinen Eingang gefunden, wenngleich etliche der jetzt wieder vorgetragenen Sichten auf den Platz des „Soldatenkönigs“ bei der Genesis der - wie gemeint wird - echt preußischen Auffassung, daß der Staatsuntertan sinnvolle Arbeit zur Schaffung von Werten zu leisten und zu diesem Endzweck Arbeitsamkeit und Fleiß aufzubringen habe, mit Dreßen fürwahr über Kreuz liegen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 06+07/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
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