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Zwischen schöpferischer
Anpassung und vehementer
Gesellschaftskritik -
Fontane und Preußen

Im Gespräch mit Helmuth Nürnberger

Herr Professor Dr. Nürnberger, im vergangenen Jahr hatten wir anläßlich des Fontane-Tages in Zeuthen Gelegenheit, mit Dr. Gotthard Erler über seine Beziehung zu Fontane zu reden. Jetzt, im Juni 2001, bietet der diesjährige Fontane-Tag in Zeuthen - den wir in dieser Ausgabe des Berliner LeseZeichens dokumentieren - die Möglichkeit, Sie nach Ihrer Beziehung zu Fontane zu befragen. Sie haben sich ebenso wie Gotthard Erler der Erkundung und Verbreitung des Werkes von Theodor Fontane verschrieben. Insofern sei mir folgender Vergleich gestattet: Sie, Herr Nürnberger, könnten als der Gotthart Erler Westdeutschlands, Herr Erler als der Helmuth Nürnberger Ostdeutschlands gelten. Wie Erler sind Sie in den sechziger Jahren mit ersten Publikationen zu Fontane an die Öffentlichkeit getreten, mit einer umfangreichen Studie, „Der frühe Fontane“ (1967), der kleinen Rowohlt-Monographie (1968) und der Edition der „Briefe an Hermann Kletke“ (1969). Wie Erler zeichneten Sie jeweils mitverantwortlich für eine zu Zeiten der deutschen Teilung im jeweiligen Staat veranstaltete Fontane-Ausgabe. Wie Erler haben Sie sich den Ruf des profunden Fontane-Kenners erworben. Inzwischen liegt die 24. Auflage Ihrer bei Rowohlt erschienenen Monographie über Fontane vor. Dazwischen unzählige Veröffentlichungen über und zu Fontane, deren wichtigste die Münchner Edition der „Werke, Schriften und Briefe“ Fontanes und die Monographie „Fontanes Welt“, 1997 bei Siedler erschienen, sind. Sie sind Vorsitzender der 1990 in Potsdam gegründeten Theodor-Fontane-Gesellschaft und neben Ihrer Publikationstätigkeit unermüdlich in Sachen Fontane unterwegs.

Der Vergleich ist für mich sehr ehrenvoll. Er ist mir auch sehr sympathisch. Herrn Dr. Erler kenne und schätze ich seit Ende der sechziger Jahre. Er hat bereits meine ersten Publikationen zu Fontane rezensiert, was für mich damals - ich war noch Student - wichtig war. Über und wegen Fontane hatten wir über die Jahrzehnte hinweg immer einen guten Arbeitskontakt, der für unsere Herausgebertätigkeit durchaus befruchtend war. Neben den erkennbaren Parallelen gibt es natürlich auch Unterschiede. So war Herr Erler als verantwortlicher Mitarbeiter des Aufbau-Verlages der DDR unmittelbar in die eigentliche Verlagsarbeit eingebunden. Später konnte er so auf die Fontane-Edition auch verlegerisch Einfluß nehmen. Meine berufliche Entwicklung vollzog sich dagegen als Hochschullehrer, die alltägliche Arbeit war die wissenschaftliche Lehre. Sicherlich gab es dabei Berührungen und Schnittflächen mit Fontane, die die Edition befruchteten. Meine Herausgeberschaft an der Münchner Fontane-Edtion beim Carl Hanser Verlag vollzog sich jedoch unter anderen Bedingungen, als sie Erler zu berücksichtigen hatte. Ganz zu schweigen von den kommerziellen Rahmenbedingungen. Erschwerend kam hinzu, daß der größte Teil der Handschriften und Archivalien sich in Potsdam und Ost-Berlin befanden (und natürlich noch befinden), was zu Zeiten des Kalten Krieges nicht gerade zu den förderlichen Arbeitsbe- dingungen einer in Westdeutschland veranstalteten Fontane-Edition gehörte. Wir hatten zwar eine gute Zusammenarbeit mit dem Fontane-Archiv, doch eine Freigabe für bisher Unveröffentlichtes war zunehmend schwerer zu erhalten. Erleichterung erfuhren wir kurioserweise durch die in den 60er Jahren begonnene Fontane-Edition des Aufbau-Verlages. So warteten wir zuweilen voller Ungeduld auf den entsprechenden Band dieser Ausgabe, weil wir dann wenigstens die dort veröffentlichten Ausgrabungen aus den Archiven in unserer Münchner Ausgabe verwerten konnten. Einem kollegialen Meinungsstreit zwischen Ost und West taten diesen Bedingungen keinen Abbruch. Die Gründung einer Fontane-Gesellschaft - von Liebhabern wiederholt angeregt - allerdings verzögerte sich. Daß wir bis nach der Wende warteten, hing damit zusammen, daß wir damals das richtige Gefühl hatten, auf einer nichtinstitutionellen Ebene lasse sich die Zusammenarbeit mit den DDR-Kollegen leichter handhaben.

Wann und wodurch wurde Ihr Interesse für Fontane geweckt, und wann begann Ihre Leidenschaft zu dem Brandenburger?

Geweckt wurde mein Interesse relativ spät. Ich komme aus Böhmen, und in der Bibliothek meines Elternhauses stand Fontane nicht. Mit etwa zwanzig Jahren (1950) kam mir ein erstes Buch von Fontane in die Hände. Es war Schach von Wuthenow, und wenn ich nicht irre, war es dieselbe eher unscheinbare Ausgabe, von der bei Uwe Johnson in den Jahrestagen an der Stelle die Rede ist, wo der Literaturunterricht in einer mecklenburgischen Schule geschildert wird - ein wahres Kabinettstück. Was mich bei dieser ersten Begegnung mit Fontane sofort faszinierte und mein Interesse für ihn nachhaltig weckte, war die Verbindung von Literatur und Geschichte, auf die ich bei ihm stieß. Ich glaube, unter diesem Aspekt kann ich mich in den heranwachsenden Fontane hineinversetzen: Geschichte als das erste geistige Erlebnis, das dem der Literatur vorangeht und ihm den Weg bereitet. Studiert habe ich als erstes Fach dann aber Germanistik in Münster und Hamburg. Meiner Entscheidung für Fontane war sicher förderlich, daß Fontane einerseits inzwischen für die germanistische Forschung ein interessanter Autor war und andererseits die Hamburger Germanistik damals eine Art Ableger der Berliner Germanistik bildete. Die Ordinarien stammten sämtlich aus Berlin (oder hatten dort Lehrjahre absolviert) und waren für Fontane ansprechbar. So war ich in guten Händen. Vor allem hatte ich das Glück, daß ich an einen jüngeren, später in Westdeutschland sehr bekannt gewordenen Germanisten, Karl-Robert Mandelkow, geriet, der mich auf die Spur Fontanes setzte. Mein zunächst geplantes Dissertationsthema war eine Arbeit über die Handschriften zu Vor dem Sturm. Doch bald erwies sich, daß dieses Projekt unter den damaligen Bedingungen des geteilten Berlins nicht realisierbar war. Allerdings ergaben sich bei meinen Erkundungen Funde, die ich in einem relativ umfangreichen Buch über Fontane - der bereits genannte „Frühe Fontane“ - publizieren konnte. Übrigens sollte dieses Buch zunächst „Fontane und England“ heißen. Der Verleger aber sagte, „Fontane und - “ sei zu germanistisch, und so wurde im Lektorat Der frühe Fontane geboren. In Rezensionen konnte ich später lesen, der junge Autor habe sich aus einer Art Trotz gegen das geläufige Bild vom „alten Fontane“ gestellt. Ich war aber gar nicht trotzig, sondern - wie gelegentlich Fontane - in bedrängter Lage und dementsprechend nachgiebig. Mit dieser Veröffentlichung galt ich, wie das so ist, plötzlich als Fontane-Kenner und erhielt sofort einen Anschlußauftrag - immer noch als Student -, nämlich die Rowohlt-Monographie. Die endgültige Entscheidung für Fontane fiel, als ich Mitarbeiter der Münchner Fontane-Ausgabe wurde, die der Hanser Verlag veranstaltet. Meine Chance war, daß dies gerade zu dem Zeitpunkt geschah, als 1969 mit dem Erscheinen der DDR-Fontane-Ausgabe eine gründliche Überarbeitung der beiden westdeutschen Ausgaben nötig wurde. Man muß sich vergegenwärtigen, daß die Nymphenburger- und die Hansa-Ausgabe, die den Beginn der sogenannten Fontane-Renaissance in den fünfziger Jahren begleiteten, sich zunächst mehr auf dem Niveau gehobener Volksausgaben bewegten. Erst der wissenschaftliche und verlegerische Konkurrenzkampf in den folgenden Jahrzehnten zwischen den ostdeutschen und den westdeutschen Ausgaben einerseits und der zwischen den beiden in München veranstalteten Ausgaben trug wesentlich zur Hebung des Niveaus und zur Qualität der Fontane-Editionen bei. Ab 1969 war ich einer der beiden Herausgeber der Fontane-Edition bei Hanser. Bald darauf nicht nur alleinverantwortlicher Hauptherausgeber, sondern zugleich auch als Hochschullehrer tätig. Heute kann ich sagen, man kann in der Wahl seines Dichters nicht vorsichtig genug sein. Ein früh vollendetes junges Talent, das zwei Bände hinterlassen hat, ist allemal überschaubarer als ein großer Schriftsteller, von dem bisher Gültiges in 22 Bänden ediert werden konnte, ohne daß für mich die Aussicht besteht, den Abschluß der Veröffentlichung aller Schriften, Briefe, Tagebücher usw. zu erleben.

Sind Ihnen vor dieser Hinterlassenschaft Fontanes nicht hin und wieder Zweifel gekommen, sich diesem märkischen Dichter verschrieben zu haben?

Grundlegende Zweifel nicht. Natürlich verlangt Fontane einem viel ab. Doch je tiefer man in sein Leben und Werk eindringt, desto intensiver bleibt man mit ihm verbunden. Das geht wohl nicht nur mir so. Allerdings lag und liegt meine erste Sympathie bei einigen österreichischen Autoren, die auch Folgen hatte: Über Joseph Roth habe ich eine Monographie publiziert. Diese „Abstecher“ haben mir darüber hinaus stets geholfen, einen gewissen Abstand zu Fontane zu bewahren. So kam ich - ich glaube es zumindest - nie in Gefahr, ihn ungebremst und unkritisch zu sehen und somit zu ihm die für die editorische Arbeit notwendige Distanz zu verlieren.

Ihre „Abstecher“ in der Forschungs- und Publikationstätigkeit beziehen sich ja nicht nur auf österreichische Autoren. Überraschend auf den ersten Blick: eine Monographie zu Johannes XXIII., an der Sie als Student schon arbeiteten, die aber erst 1985 erschien. War das eine Erholung von Fontane und anderen Schriftstellern oder berufliche Pflichterfüllung?

Das war, zugegebenermaßen, etwas ungewöhnlich, hängt aber mit einem weitverbreiteten Mißverständnis zusammen. Junge Leute wählen Literatur als Studienfach und finden Germanistik. Das schließt natürlich auch den einen oder anderen Fluchtversuch ein. Meiner verlief noch relativ glimpflich. In der Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils hat mich die Figur dieses Papstes außerordentlich fasziniert und beschäftigt. Unmittelbar nach der Fontane-Monographie schrieb ich mein Buch über den Papst, das aber, zum Bedauern des Herausgebers der Reihe, des unvergeßlichen Kurt Kusenberg, viele Jahre unfertig liegen blieb. Erst nach zwei weiteren Pontifikaten, als sich die Vorzeichen gründlich geändert hatten, habe ich, vielleicht aus einem kleinen Gefühlstrotz heraus, die Arbeit über Johannes XXIII. zu Ende geführt.

Die von Ihnen herausgegebene Ausgabe der Werke Fontanes ist zuerst mit den „Wanderungen“ in 3. Auflage erschienen. Dies überrascht insofern, als es, abgesehen von einigen Landschaften, die früher preußisch waren, und von den Menschen, die nach 1945 die Mark Brandenburg verlassen hatten, in Westdeutschland doch wenig Sympathisanten für Preußen gab. Woraus erklärt sich das?

Hier wirkte offensichtlich eine Mischung aus Preußen-Renaissance, Fontane-Renaissance und einer nostalgischen Bindung an die Landschaft der Mark Brandenburg, die den meisten Westdeutschen durch die Teilung verschlossen war. Ähnliches haben wir dann 1990 erlebt, allerdings mit umgekehrten Voraussetzungen. Jetzt war es die nunmehr jederfrau und jedermann zugängliche Landschaft der Mark Brandenburg, die der Fontane-Renaissance einen nochmaligen Anschub gab. Das gestiegene Interesse für Preußen in den 80er Jahren in Ost- und Westdeutschland und die Vorzeichen von 300 Jahre Preußen haben sicher ebenfalls dazu beigetragen, daß das Interesse für die „Wanderungen“ sehr groß wurde. Und das, obgleich Fontane zuerst berühmt und gefeiert worden ist als Sänger preußischer Feldherrnkunst, bevor er unsere märkische Landschaft erwanderte. Seine literarische Stellung im Gesamtzusammenhang der deutschen und auch der europäischen Literatur errang er jedoch mit seinen Romanen und Erzählungen der 1880er und 1890er Jahre. Aber auch hier zeigen die Publikumsreaktionen, daß die Romane in sehr unterschiedlicher Weise populär sind. Effi Briest beispielsweise erfährt ein außerordentlich großes Interesse. Man kann das an den Taschenbuchausgaben ablesen. Effi Briest hat in der Lizenzausgabe der Hanser-Edition, die zuerst bei Ullstein, jetzt bei dtv erschienen ist, zusammengenommen eine Auflage von mehr als 500 000 erreicht., während andere Romane wie Graf Petöfi oder Unwiederbringlich nie über die Zwanzigtausend hinauskamen. Das hängt auch damit zusammen, daß Fontane in einer vielleicht zu simplen Weise als der Autor Berlins und der Mark Brandenburg gesehen wurde und wird, was er natürlich war. Aber nicht nur: Zum Beispiel mit Unwiederbringlich hat er einen literarisch ranghohen Roman geschrieben, der in Schleswig Holstein und Dänemark angesiedelt ist.

Es war ja bereits des öfteren von der Fontane- und Preußen-Renaissance die Rede. In Ihrem hier abgedruckten Beitrag - „Theodor Fontane - ein Dichter in Preußen“ - verweisen Sie nachdrücklich darauf und stellen Ihre Überlegungen zur Wechselbeziehung zwischen beiden „Wiedergeburten“ dar. Deren Erscheinung liegt allerdings Jahrzehnte auseinander. Sicher waren und sind der 100. Todestag Fontanes und die 300. Wiederkehr der Krönung Friedrichs III. zum König in Preußen Anlaß vermehrter Beschäftigung und Aufmerksamkeit mit Fontane und Preußen. Aber ist das schon eine Renaissance?

Preußen war schon Anfang der 70er Jahre in der Bundesrepublik zumindest in bestimmten Kreisen ein lebhaft diskutiertes Thema. Das Buch des Kanadiers Kenneth Attwood, Fontane und das Preußentum (1970), das soeben nachgedruckt wurde, geht von dieser Voraussetzung aus. Aber gut, die Fontane-Renaissance begann früher. Als einer ihrer Auslöser kann das Erscheinen der Briefe Fontanes an Georg Friedländer 1954 betrachtet werden. Plötzlich zeigte sich, daß Fontane in seiner kritischen Sicht auf die damalige wilhelminische Gesellschaft, auf bestimmte preußische Traditionen und auf die Stellung des Adels in seinen Briefen klarer und schärfer war, als in seinen Romanen und Erzählungen ablesbar schien. Nach dem Zusammenbruch von 1945 und dem zögerlichen Einsetzen der Fragen nach den Wurzeln und Gründen eines langen Irrweges in der deutschen Geschichte erwies sich Fontane als ein kritischer Zeitzeuge, der mit seinem Werk Antwort auf viele Fragen an die preußische Geschichte geben konnte. Seine Romane und Erzählungen, die nun gewissermaßen einen schärferen Kontext erhalten hatten, wurden als Auskunft oder doch als Weg zur Erkenntnis begriffen und neu gelesen. Daß nunmehr Fontane nicht mehr nur als Angepaßter an die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit beurteilt werden konnte, sondern auch als vehementer Kritiker der Bismarckschen und wilhelminischen Epoche sich darstellte, hat wohl auch die Fontane-Rezeption in der DDR erleichtert. Damit einherging ein enorm gewachsener Anspruch an die kritische Edition seiner Werke. Die Vorhaben in der BRD und DDR, jeweils eine große, sorgfältig kommentierte Ausgabe der Schriften Fontanes zu veranstalten, zeigten ja auch, daß ein Gespür dafür da war, daß es sich hier um einen Autor handelte, der eben nicht in den Bereich einer gehobenen Belletristik oder einer wie immer gearteten Heimatliteratur gehörte. Allerdings waren damit nicht alle Vorbehalte gegen Fontane ausgeräumt.

Fontane hat, wie seine Werke, insbesondere seine Briefe, zeigen, an Preußen gelitten. Zugleich waren Brandenburg und die preußischen Könige seine Existenzgrundlage. Fünf Monarchen hat er erlebt, vier Regierungswechsel haben auch sein Leben und Werk beeinflußt. Stets hat er sich schließlich den veränderten Verhältnissen angepaßt. Sie haben das ausführlich und sehr schön in Ihrem Buch beschrieben. Manchmal sprangen für seine literarischen „Verklärungen Preußens“ Belohnungen und Stellungen heraus, wo nicht, war er kritischer mit seinen Verhältnissen. Ein leidender Opportunist? Sein Opportunismus gegenüber den Hohenzollern trug ja nicht wenig zur differenzierten Rezeption seines Werkes bei. Kann es sein, daß heute, mit historischem Abstand, in seinem praktizierten Opportunismus, das heißt in seiner spezifischen Fähigkeit, sich unter ihn bedrückenden Verhältnissen gleichwohl halbwegs einzurichten und diese sogar für sich produktiv zu machen, nicht auch eine Ursache für das gegenwärtig gewachsene Interesse an Fontane liegt?

Sicher, in diesem Zusammenhang muß man auch Ein weites Feld von Günter Grass lesen. Ich halte seine Ausgangsidee, eine Art Wiedergänger 100 Jahre später zu schaffen, deswegen für besonders glücklich, weil sie zum einen geeignet ist, unser Verständnis zu wecken für die Situation des Dichters, der in vielen Abhängigkeiten und Verstrickungen gefangen war. Auf der anderen Seite ermöglicht sie auch eindrucksvoll zu zeigen, wie man mit diesen Abhängigkeiten umgeht und wie man mit ihnen überleben kann. Das hat natürlich stets aktuellen Wert. Zu bedenken ist natürlich auch das Widersprüchliche in der Haltung Fontanes zu Fragen seiner Zeit. Ich erinnere nur an seinen Übergang nach 1848 in den Dienst der Regierungspresse. Auch später gibt es Züge von Anpassung, die man mit großer Distanz sehen kann, ohne sich deswegen ein überhebliches Urteil anzumaßen.

Sie haben mehrfach darauf aufmerksam gemacht, daß sich der „konservativ-soldatische Geist“ der Regierung unter Wilhelm I. in Fontanes Bild von der Mark Brandenburg und den sie prägenden Adelsfamilien nicht nur besser einpaßte, sondern auch für ihn produktiv und stimulierend war. War er mit seinen „Wanderungen“, seinen „Kriegstagebüchern“ und in einigen Romanen und Erzählungen nicht sogar ein erzählerisch begnadeter Mitgestalter der Hohenzollernlegende?

Im gewissen Sinne sicherlich. Allein wenn man sich den Fontane der 1860er und 1870er Jahre ansieht, den Verfasser der drei Bücher über die Bismarckschen Kriege und der Gedichte auf eben Wilhelm I., dem ehemaligen „Kartätschenprinzen“ von 1848. Er war auf jeden Fall für das Bewustsein der damaligen Leser ein Autor, der in diese Richtung verstärkend bestätigend wirkte. Damit sind wir beim Problem der politischen Verantwortung des Schriftstellers. Ein Problem, das sich nicht auf Fontane beschränkt, sondern viele Biographien prägt. Gerade deshalb ist es unerläßlich, ihn im historischen Kontext seiner Zeit zu sehen. Das gilt ebenso für die antisemitischen Anschauungen Fontanes. Hier kam es zu Entgleisungen, die in gar keiner Weise irgendwie entschuldigt werden können. Auch nicht damit, daß sie meist nur in privaten Äußerungen zum Ausdruck kamen. Diese muß man offen darlegen. Auf der anderen Seite müssen wir uns auch wieder vergegenwärtigen, daß alles, was er damals gesagt hat, von uns heute mit anderen Erfahrungen zur Kenntnis genommen und gewertet wird als von seinen Zeitgenossen.

Fontane hat, was seine materielle Situation betraf, nicht nur unter seinen schlechten Startbedingungen gelitten, sondern bis ins hohe Alter keine Gelegenheit ausgelassen, den Mangel an finanziellen Mitteln und gesellschaftlicher Anerkennung zu beklagen. Nimmt man diese Klagen ernst, so stellt man fest, der arme Mann muß immer am Hungertuch genagt haben. Sicher kommen hier auch seine Sorgen über seine so stets von ihm empfundene unsichere Zukunft zum Ausdruck. Mir scheint aber, er übertreibt nicht nur, sondern will damit ein wenig auch seinen Opportunismus rechtfertigen. Merkwürdigerweise folgt die Fontane-Forschung seinen diesbezüglichen Nebelkerzen insofern, als es bisher kaum eine durchgängige und exakte Darstellung seiner finanziellen Verhältnisse gibt. Einige Einsichten in diese Welt Fontanes lassen jedoch eher vermuten, daß er in der zweiten Hälfte seines Lebens ein wohlhabender Mann war.

Wohlhabend wäre nach den Maßstäben der Zeit wohl zuviel gesagt, aber Sorgen hatte die Familie im letzten Lebensjahrzehnt Fontanes keine, man verfügte über ein bescheidenes Vermögen. Professor Wruck hat einmal darauf hingewiesen - ich zitiere aus dem Gedächtnis -, daß 1870 nur zwei Prozent der Berliner Haushalte über das Einkommen der Familie Fontane verfügten. Eine wirkliche Notsituation bestand wohl nur in der Zeit nach seiner Eheschließung, also Anfang der 50er Jahre, als er den Apothekerberuf aufgegeben hatte, um als freier Schriftsteller zu leben. Hier war er dann tatsächlich abhängig von dem, was er im Dienst der Regierungspresse verdiente oder nicht verdiente. Sonst sind diese Klagen Fontanes meiner Meinung nach im wesentlichen doch anderer Natur. Man muß sich vergegenwärtigen, daß dieser Autor, der ja ein sehr starkes Bewustsein von seiner literarischen Fähigkeit hatte, jahrzehntelang neben seinen literarischen Freunden, die sich bereits durch bedeutende Werke ausgewiesen hatten und anerkannt waren, höchstens nur als ein Literat mittleren Ranges galt. Dem stand eine ungeheure Arbeitsanspannung und Leistung gegenüber: Die „Wanderungen“, die „Kriegstagebücher“, seine Kritiken, die Romane, Erzählungen und all das, was er noch nebenher schrieb, legen davon Zeugnis ab. Doch die entsprechende Anerkennung für diese teilweie auch hohen künstlerischen Ansprüchen genügenden Leistungen ließ lange auf sich warten. Das war für Fontane, wie für jeden Künstler, eine sehr große Belastung. Hinzu kam, daß zur damaligen Zeit neben dem Honorar Orden und Ehrungen eine große Bedeutung besaßen. Natürlich ist auch bei den Fontanes gleichzeitig ein Streben nach bürgerlicher Wohlanständigkeit und Geborgenheit vorhanden. Vergegenwärtigt man sich die zum Teil desperaten Familienverhältnisse, aus denen beide Eheleute, Emilie und Theodor, kamen, ist das nicht verwunderlich.

Fontane ist, was seine Berufung anbetrifft, ein Seiteneinsteiger. Eine weitere Schwierigkeit, die er zu meistern hatte.

Das ist völlig richtig. Hinzu kommt, der Beruf des freien Schriftstellers ist ja etwas, das sich im 19. Jahrhundert erst allmählich entwickelte. Das Besondere bei Fontane ist seine Entwicklung: Er ist ein Apotheker, zunächst Herweghianer, dann ein vom konservativ-aristokratischen Flügel im „Tunnel“ geförderter Autor patriotischer Balladen, der langsam als politischer Journalist bekannt wird; dann sich den Wanderungen durch die Mark Brandenburg zuwendet und damit gleichzeitig den lokalen Historikern Konkurrenz macht; dann als Kriegsbuchautor in Erscheinung tritt, zum Staunen der fachlich-qualifizierten Offiziere, um gleich darauf Theaterkritiker zu werden, was die Theaterwelt durchaus überrascht zur Kenntnis nahm. Nun, nachdem er sechzig Jahre ist, betritt er als Romancier die Bühne. Und zu einem Zeitpunkt, wo alle denken, der alte Herr oder Schriftsteller geht in Rente, schafft er den Teil seines Werkes, der ihm zunehmend Ruhm einbringt. Fontane war eben in vielerlei Hinsicht eine Ausnahme.

Fontane ist, wovon wir uns immer wieder überzeugen können, ein weites Feld. Fundsachen von ihm und über ihn tauchen immer wieder auf. Gerade hat Frau Dr. Dieterle aus Zürich 50 bisher unbekannte Briefe Fontanes entdeckt. Das läßt weiter hoffen. Ist in diesem Zusammenhang zu erwarten, daß das Fontane-Bild neue Farbtupfer oder gar partielle Änderungen erfährt?

Brieffunde sind sicherlich noch weitere zu erwarten, und natürlich bleibt auf dem Gebiet textkritischer Arbeit noch viel zu tun. Daß sich unser heutiges Fontane-Bild durch neue Funde revolutionieren würde, daran glaube ich allerdings nicht. Sicher wird man ihn immer wieder neu lesen können. Das macht ja schließlich die künstlerische Qualität der Werke Fontanes aus.

Fontane war ein Meister der Legendenbildung. Ist es Ihnen gelungen, in Ihrer jahrzehntelangen Forschungsarbeit einige Legenden aufzuhellen?

In bezug auf den frühen Fontane wird mir das nachgesagt. So hat Fontane vor allem in seiner Autobiographie Von Zwanzig bis Dreißig ein Gewebe von Legenden über seine politische Jugend gelegt. Durch den unmittelbaren Vergleich mit den inzwischen verfügbaren Jugendbriefen und frühen politischen Artikeln ist es möglich geworden, das zu korrigieren.

In anderen Bereichen, wie beispielsweise in dem Buch Meine Kinderjahre, ist das natürlich schwieriger. Hier verfügen wir nur über das Bild, das er in der verklärenden Erinnerung selbst entwirft. Ein überaus liebenswürdiges Bild, aber auch voller Legenden, an die man gar nicht rühren möchte, wenn man an die Figur des Vaters denkt. Aber man muß sich darüber klar sein, daß das ein Buch ist, das aus großem Altersabstand geschrieben wurde und in der Figur des Vaters sicherlich auch ein verklärtes Selbstbildnis enthält. Nur, korrigierende Quellen stehen uns hierzu nicht zur Verfügung. Es sei denn, man nimmt das erste „Geschichtenbuch“ Fontanes zur Hand, das er mit 11 Jahren geschrieben hatte und 1995 in einer Faksimileausgabe des Originals, das sich im Besitz der Berliner Staatsbibliothek befindet, erschienen ist. Dann kann man den burschikosen Stil des Elfjährigen mit den köstlich stilisierten Gesprächen in Meine Kinderjahre vergleichen.

Sie haben in Ihrem Buch geschrieben, daß Fontane mit seinen Romanen in die Weltliteratur eingegangen ist. Wie ist das zu verstehen? Wird er denn bereits von der Welt wahrgenommen?

Ja, so hoffen wir Germanisten jedenfalls immer. Im Grunde genommen ist es mit der Präsenz Fontanes in der Literatur außerhalb der deutschen Grenzen nicht sehr gut bestellt. Was nicht bedeutet, daß es nicht inzwischen eine Fülle von Übersetzungen gibt. Aber in dem Meer von literarischen Erscheinungen geht das eben auch unter. Ältere deutsche Literatur hat es in der Welt ja ohnehin schwer. Es sind nicht so sehr viele deutsche Autoren, die in Frankreich gelesen werden. Da sind andere Autoren, wie zum Beispiel Heinrich Heine, in anderem Maße als Fontane präsent.

Das heißt also, in Ihrem Verständnis ist Weltgeltung ein Ausdruck von künstlerischer Qualität, selbst wenn das Werk in der „Welt“ noch wenig bekannt ist?

Ja. Berücksichtigen müssen wir, daß es schwierig ist für eine spezifisch deutsche Art des Realismus - verbunden mit den konkreten Zeitbedingungen -, Verständnis zu wecken. Vor allem gemessen an den großen russischen, französischen und englischen Gesellschaftsromanen des kritischen Realismus.

Und seine Geltung in Deutschland heute?

Fontanes Wirkung, so schätzte man das früher ein, endete an der Mainlinie. Dort endete vor 1870, von einigen militärischen Aktionen abgesehen, auch der Machtbereich Preußens, jedenfalls ist es dort nie heimisch geworden. Diese Grenze wirkt bei der Aufnahme preußisch-fontanischen Gedankengutes teilweise bis in unsere Zeit. Das Fontane-Jahr 1998 war in Österreich, Bayern und Baden-Württemberg kein Ereignis (wie übrigens auch das gegenwärtige Preußenjahr). Andererseits ist München der Standort der beiden großen westdeutschen Fontane-Ausgaben geworden. Die bayerische Sektion der Theodor-Fontane-Gesellschaft richtet unser diesjähriges Frühjahrstreffen in München aus. Die Grenzen werden durchlässiger. Ob damit die Zahl der Fontane-Leser in diesem Raum steigt, ist wiederum eine andere Sache. Aber es besteht ja insgesamt eine große Bereitschaft, Fontane zu lesen, und das ist doch phänomenal, daß man dies von einem älteren deutschen Autor sagen kann. Wie viele Leser hat Gottfried Keller, der poetisch reicher, Wilhelm Raabe, der als Erzähler vielleicht sogar moderner ist. Fontane hat viele Leser, und sie neigen dazu, die Fontane-Zeit inzwischen mit den Augen Fontanes zu sehen. Seine Romane sind für viele Leser prägender als die Werke der Historiker. Das Problem: Der Griff nach Fontane setzt voraus, daß den Leser dann auch die geschichtlichen Voraussetzungen dieser Epoche interessieren. Wo also das Interesse für diese preußisch-berlinische Welt gering oder geklärt scheint, wird naturgemäß das Interesse für Fontane gering sein. Es sei denn, es gelänge, die Aufmerksamkeit auf das Übergreifende im Werk Fontanes zu lenken: zum Beispiel Fontane als ein Dichter der Frauen. Das ist etwas, das nicht notwendigerweise an die preußischen Kulissen gebunden ist. Doch andererseits können es die historischen Kulissen sein, die als Neuland betreten werden und zu Fontane führen. Insofern kann er für ein anderes Publikum - auch aus anderen Ländern - interessant sein. Seine Qualität rechtfertigt es gewiß.

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende

Berliner LeseZeichen, Ausgabe 05/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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