Eine Rezension von Sven Sagé

Ende ohne Erhabenheit?

Hartmut Lange: Die Bildungsreise
Diogenes Verlag, Zürich 2000, 127 S.

Wenn das eine Mode ist, nicht modisch zu sein, ist Hartmut Lange immer modern. Der Schriftsteller hat sich keinen geläufigen Zeitspiegel-Stil erschrieben. Seinen Stil bestimmen der Schwung der erzählten Geschichten sowie der Rhythmus der Sprache. Die Sprachkunst und die Kunst der Geschichte als Maßstab zu akzeptieren bedeutet, der Literatur Chancen zu ermöglichen. Das hat der Erzähler wieder einmal getan, als er Die Bildungsreise schrieb. Eine fiktive Geschichte. Eine literarische Geschichte. Eine novellistische Geschichte. Der Epiker täuscht die Leser nicht. Die versprochene Novelle ist eine Novelle. Was ist eine Novelle? In der Zeit des allgemeinen Bescheidwissens der Unwissenden sieht eine Novelle aus wie eine Benzinkutsche von Daimler-Benz. Der Definition treu, verfaßte Lange eine Novelle, die eine „unerhörte Begebenheit“ schildert, die dem „Schicksal des Helden“ eine entscheidende Wende gibt.

Die Hauptfigur in Die Bildungsreise ist ein Kunstlehrer aus Berlin. Zunächst mit einer Reisegruppe in Rom unterwegs, die programmgemäß auf den Wegen des Johann Joachim Winckelmann wandelt, wird die Spurensuche zur Obsession des ambitionierten Pädagogen. Der Wißbegierige will erkunden, wo, wie, warum Winckelmann (1717-1768) wirklich starb. Ständig schürt die Novelle im gebildeten Leser Erwartungen, die der Autor nicht gewillt ist zu erfüllen. Die angestachelten Erwartungen steigern die Spannung, die in der Geschichte des Gymnasiallehrers nicht angelegt ist. Nicht beabsichtigt war eine Winckelmann-Enthüllungs-Story. Konsequent „gewisse Dinge im Dunkel belassend“, geht's grundsätzlich nicht um das, was die Dinge sind. Hingezogen zum Winckelmannschen Todesort Triest, angezogen vom Unheilvollen, scheint's so, als würde das Schicksal des Erziehers dem des Ermordeten vergleichbar. Kommt im Unheilvollen um, wer sich in Unheilvolles begibt? Verliert sich, wer zum Verlorensein bestimmt ist? Nimmt Abschied, wer seinen Abschied ahnt? Kann das Ende eines „Erhabenen“ ohne Erhabenheit sein? Das sind die eigentlichen Dinge, die sich hinter den profanen Tatsachen des mörderischen Todes von Johann Joachim Winckelmann verbergen. Die Bildungsreise ist die Geschichte einer Annäherung an das Abschiednehmen, an das Sterben, an den Tod. Bruder Winckelmann ist ein getreuer Wegbegleiter auf dem Weg der Annäherung.

Harmut Lange erzählt still und sachlich. Das Buch ist wie ein stilles Wasser, in das der Autor hin und wieder Kohlensäuretabletten wirft. Zwischensätze, immer wieder Zwischensätze, beschleunigen und harmonisieren den Sprachrhythmus und sorgen für die nötigen Zwischentöne. Tod nicht als Tragödie, nicht als Krawall und Spektakel zu schildern, die sich für Sondersendungen eignen, das ist dem Erzähler Lange wichtig. Das macht Die Bildungsreise wesentlich, die Gefühle für das Wesentlich-Existentielle bildet. Bewegung um der Bewegung willen bedeutet Hartmut Lange wenig. Er fragt nach dem Sinn der Bewegungen, die das Leben sind. Lange fragt leise. In der Sprache der Literatur. Die wer versteht? Für die wer das Gehör hat? Die Bildungsreise ist ein Buch, das kein Quatschtett verquatschen kann.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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