Eine Rezension von Christel Berger

Hampel und das fehlende Glück kleiner Leute

Michael Kumpfmüller: Hampels Fluchten
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2000, 494 S.

Es ist das Buch eines bisher Unbekannten, das - anders als viele solcher Debüts - bei seinem Erscheinen von der Presse recht auffällig und aufmerksam gewürdigt wurde, es sogar bis zu einem Platz im „literarischen Quartett“ schaffte, in der „Zeit“ wahrscheinlich deshalb äußerst kurzfristig auf der Bestsellerliste stand und seitdem kaum noch erwähnt wird. Die „obersten Richter“ in der erwähnten Fernsehshow hatten auch keine allzu gute Meinung über den Roman. Die „Neue“ - Iris Radisch - sprach dem Autor gar das Recht ab, über die DDR, in der er ja nicht gelebt habe, kompetent schreiben zu können. Kurz, das Buch war ihnen suspekt, weil es keines ihrer gängigen Bilder bediente. Und gerade das sollte aufmerksam machen!

Im Roman geht es um Heinrich Hampel, geboren 1931 in Jena, Sohn eines Glasarbeiters bei Schott, der nach 1945 mit der gesamten Familie in die Sowjetunion „zur Wiedergutmachung“ und zum Aufbau eines neuen Glaswerks beordert wird. Wanda, die Bürgler Bauerntochter, die der kinderreichen Familie als Hilfe zugeteilt wird, ist seine erste Versuchung und die erste Erfahrung, wie das Weibliche auf ihn wirkt. Er ist in seinem Bann. Zeitlebens. Mit Ljussia, der Russin, geht es weiter, und dann folgen Dora, Rosa, Bella, Marga, Emilia - es sind weiß Gott nicht alle. Heinrich kann den Frauen nicht widerstehen, und sie mögen ihn auch. In Jena, in Rußland, wieder in Jena, in Regensburg und dann wieder in Jena. Das sind die Stationen Hampels. Fluchten nennt sie der Autor, denn Heinrich fühlt sich auf der Flucht: vor den Ansprüchen seiner Liebsten, vor allem vor Gläubigern. Denn er ist nicht so reich, wie er es den Frauen vorgaukelt und „schön“ machen will. Als Verkäufer ist er begabt. Bettenverkaufen ist seine Leidenschaft, denn für die Frauen, die die Betten kaufen, verausgabt er sich förmlich. Sein Chef in Regensburg ist äußerst zufrieden mit ihm. Aber Hampel und Gattin Rosa wollen mehr: ein eigenes Geschäft, und das geht nur kurze Zeit gut. Die Schulden wachsen, die Gläubiger drohen. Hampel flieht. Man schreibt das Jahr 1962. Er flieht in den Osten, und diese Entscheidung ist lebenslänglich, auch wenn er bis zuletzt glaubt, er könne immer wieder neu anfangen.

Diesen Glauben braucht er, denn er strauchelt immer wieder. Sein Verhängnis: Die Frauen und sein Verkaufstalent ziehen ihn wieder und wieder in krumme Geschäfte. Dazu kommt der Alkohol, und trotz Arbeit im Bau, trotz Fernstudium, trotz Familie geht es immer wieder bergab. Das Gefängnis in Gera und später in Bautzen sind so Erlebnisse unseres Hampels. Rosa mit den drei Kindern verläßt ihn, die Affären werden immer kürzer. Selbst sein Führungsoffizier Harms will keine Berichte mehr von ihm, und dabei konnte er doch so schön über seine vielen Bekanntschaften schreiben. Harmlos, versteht sich.

In Briefen an die Westfamilie bettelt er um Kaffee, Kleidung und Kosmetik für die letzte seiner Lieben. Arm und krank stirbt er siebenundfünfzigjährig.

Ein eigenartiges Buch, das mich mehr und mehr in seinen Bann gezogen hat. Als eine, die im Osten gelebt hat, staune ich über die Sicherheit, mit der Kumpfmüller Ost-Befindlichkeiten beschreibt. Er hat sich nicht nur kundig gemacht, was Örtlichkeiten, Ereignisse, Sprüche, Bedürfnisse angeht, er hat den Versuch gewagt, dem Denken, Fühlen und Befinden der kleinen Leute innerhalb großer Politik von Kriegen, Nachkrieg, Parteitagen, Deklarationen, Gesellschaftsentwicklungen nachzuspüren und - wenn es sie nicht ganz direkt betroffen hat, ging es ihnen - wie es ganz vulgär heißt: „am Arsch vorbei“. Erst, als der Krieg Aachen erreicht, wo die Verwandten sitzen, nimmt ihn die Mutter wahr. Erst, als die Einquartierung wieder abzieht, ist für sie Frieden. Und Hampel, der im Westen wegen der Bekanntschaft zu einem Abgeordneten CSU gewählt hat, mangelt es im Osten nicht etwa an dieser Freiheit. Ihn ärgert nur der größere Wohlstand der Schwester im Westen.

Das Erstaunliche am Buch ist für mich, wie Kumpfmüller eine Bastion oder Tradition, auf die sich DDR-Literatur berief und auf die sie stolz war, aufhebt: die Schilderung der kleinen Leute. Deren Standpunkt sollte gelten, und Autoren wie Turek, Seghers, Strittmatter, Brezan, Kant und viele andere haben der Literatur tatsächlich neue menschliche Dimensionen erschlossen. Und - wie Kumpfmüller zeigt: so manches übersehen oder harmonisiert oder bagatellisiert. Hampel ist auch ein Schwacher, aber ihm fehlt die Kraft der Schwachen, und Schwäche ohne Kraft hat in keiner Gesellschaft Chancen.

Darüber zerfließt der Autor nicht etwa in Mitleid, und diese Haltung des Autors ist ein weiteres bemerkenswertes Moment: Kumpfmüller zieht viele Register. Er macht sich lustig über den unerziehbaren Hampel, er spottet, weckt Verständnis und zieht sich als Autor zurück, wenn es gar so arg mit dem armen Hampel wird. Dann sprechen nur noch dessen Briefe, und wer glaubt schon einem Kriminellen und Gescheiterten?

Ein Buch, das es verdient hat, weiterempfohlen zu werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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