Eine Rezension von Hans-Rainer John

Spurensuche in der Vergangenheit

Barbara Honigmann: Alles, alles Liebe!
Roman.
Carl Hanser, München 2000, 184 S.

Sie haben sich in Berlin zur „Turnschuhbande“ zusammengefunden - die herangewachsenen Kinder prominenter Intellektueller und von jüdischen Emigranten, die in die DDR zurückgekehrt sind, um hier wichtige Positionen einzunehmen („Bonzen und Funktionäre“). Die Kinder freilich stehen in mißvergnügter Opposition zu ihren Eltern und ihrem Staat (man schreibt das Jahr 1975), wollen sich nicht anpassen, wollen sich dem organisierten Leben entziehen, einfach nur miteinander sitzen, trinken, reden, schlafen, sich dem ewigen Verwirrspiel der Liebe hingeben. Man betrauert die eigene Lahmheit und Faulheit und die ewigen Klagen darüber, hängt in Theaterkantinen und im „Espresso“ an der Kreuzung Friedrichstraße/Unter den Linden herum mit seinen Fragen, den Zweifeln, dem Frust, den verrückten Herzensverhältnissen. Man malt, man dichtet ein bißchen, man philosophiert, Theaterarbeit ist natürlich en vogue (aber in Berlin für Anfänger nicht praktizierbar), Leon stöbert nach Antiquitäten und reißt damit Geldquellen auf, Alex schiebt Kulissen, aber ein normales Berufsleben ist das nicht. „In manchen Zeiten ist es am besten, nichts zu tun und nichts zu haben.“ Ein Balanceakt am Rande des offiziellen Lebens im real existierenden Sozialismus.

Da versuchen es eines Tages ein paar aus der Clique in der Provinz. Matti jobbt als Chemiker in Jena, Eva geht als Schauspielerin nach Meiningen, und Anna übernimmt die Inszenierung eines Weihnachtsmärchens in Prenzlau. Das ist Anlaß für einen Briefwechsel untereinander, und mit den in Berlin zurückgebliebenen Freunden und Verwandten, auch gute Bekannte aus Moskau, Wien und Jerusalem takten sich ein. Durch geschickte Abfolge der Briefe ergibt sich ein stimmiges Bild einer Zeit, die bis heute prägend geworden ist, mit einer Reihe bewegender Porträts junger Menschen, die von den Ereignissen durchgerüttelt werden und die den einen Tag - durch Liebe trunken - himmelhoch jauchzen und am anderen Tag - vom eigenen Unwert überzeugt - zu Tode betrübt sich selbst das Leben zu nehmen trachten. Am Ende sind es rund 60 Briefe, die zwischen 1. 11. 1975 und 3. 1. 1976 gewechselt werden.

Wieder einmal hat die Autorin rückhaltlos ihre eigene Biographie geplündert, und entstanden ist ein subtiler, menschlich berührender Briefroman voller Atmosphäre und Authentizität, einfach und unverschnörkelt geschrieben in der schönen, unverwechselbaren Sprache der Kleist-Preisträgerin Honigmann (51).

Natürlich braucht ein solches Unternehmen ein Zentrum, und als solches ist wohl Anna erkoren. Das Buch beginnt, indem sich diese Frau zu ihrem Regiedebüt nach Prenzlau begibt und sich bis zur Selbstverleugnung ihrer leidenschaftlichen Liebe zu Leon hingibt, und es endet, als sie mit ihrer Inszenierung scheitert und gekündigt wird und sich zugleich Leon als ein Partner erweist, der sie verrät und enttäuscht. Ihr Resümee lautet so: „Im Sommer war ich verliebt und wollte mich als Regisseurin in der Provinz behaupten. Im Herbst sind meine Inszenierung und meine Liebe verfallen. Und nun ist es Winter - Theater und Liebe kaputt!“ Um dieses Zentrum sind alle anderen Briefpartner und deren Probleme gruppiert, dadurch ist Anfang und Ende bestimmt, das ist sehr geschickt arrangiert.

Einwände? Es ist offen gesagt ein wenig kompliziert, die Haltung der jungen Menschen zu bewerten, weil kaum Maßstäbe vorgegeben sind. Sie nörgeln ewig herum, haben aber kein widerständlerisches Programm. „Mein Leben ist ungeordnet und unordentlich“, klagt der eine, und die andere bekennt: „Manchmal tue ich was und meistens nix. Ich sage mir, wenn man zehn Jahre irgendwo arbeitet, dann ist man schon halb tot.“ Und eine dritte bekundet: „Wir hängen in dieser deutschen Provinz herum, Männer und Frauen haben wir nicht, immer nur Zweifel und Fragen.“ Die oppositionelle Auflehnung ist allgemein, aber sie ist kraft- und ziellos, resignativ. Aus eigener Initiative wird nur wenig in Gang gesetzt: eine Zimmertheater-Aufführung, die tatsächlich einmal zustande kommt, und eine Anthologie mit Gedichten und Prosa, Grafik und Malerei, deren Realisierung ungewiß bleibt. Dann ist da noch der Traum, sich als Gruppe an einem Theater zu konzentrieren und einander zu stützen, und allgegenwärtig ist vor allem die Sehnsucht nach Berührung und Tröstung. Das Bild, das die Autorin entwirft, ist sicher historisch stimmig, aber ästhetisch befriedigend ist es auf Dauer nicht. Da ist eine tatkräftige und entschlossene Figur wie Ilana aus Riga, die weiß, was sie will - nämlich einen Mann ehelichen, Kinder in die Welt setzen und nach Israel auswandern -, geradezu erfrischend.

Und manchmal muß einfach zuviel entschlüsselt werden. Das ist etwas mühsam, wenn man kein Insider ist. Wer weiß schon auf Anhieb, wer hinter Heiner, Fritz und Thomas steckt (Müller, Marquardt, Brasch offenbar), und mit Strehler, Ljubimow und Taganka sind heute auch kaum noch gängige Vorstellungen verbunden. Meistens beherrscht die Autorin die Kunst, in einem kurzen Brief ein ganzes Schicksal aufzureißen (Peter, Maria, Mischka zum Beispiel), aber manchmal werden auch nur Namen genannt wie Alan oder Crille, ohne daß die Menschen Leben erhalten und für uns plastisch werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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