Eine Rezension von Friedrich Schimmel
cover

Ein barbarisches Zeitalter wird besichtigt

Gustaw Herling: Tagebuch bei Nacht geschrieben
Ausgewählt und aus dem Polnischen übersetzt von Nina Kozlowski.
Carl Hanser, München 2000, 480 S.

Der polnische Schriftsteller Gustaw Herling, bisher so gut wie unbekannt in Deutschland, wird 1919 geboren, flieht 1939 vor Hitler, durchleidet einen stalinistischen Gulag und lebt später fast ein halbes Jahrhundert in Neapel. Dort starb er, einundachtzigjährig, im Sommer letzten Jahres. Herling war Mitbegründer der polnischen Zeitschrift „Kultura“, die im Pariser Exil erschien. Lange Zeit war er deren italienischer Korrespondent, ehe er in den frühen 90er Jahren mit dem Blatt wegen dessen politischer Richtung brach. Dieses Tagebuch bei Nacht geschrieben enthält eine auf die Jahre 1984 bis 1995 bezogene Auswahl aus Tagebuchnotizen, Skizzen, kleinen Erzählungen, Reflexionen und Essays. Gustaw Herling ist ein kritischer Analytiker, er schreibt nie über alltägliche Bauchschmerzen, erzählt von sich selbst überhaupt nur äußerst sparsam. Er hält fest, was ihm Kopfschmerzen verursachte. Die Brutalität des Menschen, Gut und Böse, das Vergessen, die Gleichgültigkeit. Ein vielseitiges Thema, das nie nur der Gegenwart gilt, denn es ist eins, daß sich quer über alle Zeiten und Generationen ausdehnt. Leseerfahrungen, immer wieder Leseerfahrungen. Er schlägt ein Buch auf, schon ist eine Welt oder ihr Schatten sichtbar. 1984 war Orwell-Jahr, und Herling denkt oft an das Buch 1984, das von der Wirklichkeit längst ein- und überholt worden war. Er beobachtet Ende der achtziger Jahre die letzten Zuckungen eines Systems, das einmal vorgab, den „neuen Menschen“ hervorzubringen. Herling rieb sich immer an der kalten Formel, man müsse die Massen zu ihrem Glück zwingen. Wer das verkündet und auch noch praktiziert, ist für ihn ein Barbar. Herling spitzt seine Betrachtungen pointiert zu. Gleich zu Beginn des Buches, es war gerade vom Italiener Togliatti die Rede, der den Tod italienischer Kriegsgefangener in der Sowjetunion zustimmend in Kauf nahm, heißt es: „Das letzte Gefecht wird zwischen den Dieben des Gedächtnisses und den ihres Gedächtnisses beraubten Nationen, Gesellschaften und Individuen ausgetragen.“

Die einst propagierte Fixidee von der „wirklichen Revolution“ ist nichts anderes, schreibt Herling, als „das Opium für Intellektuelle“. Sein Haupt-Thema ist das Verhalten der polnischen Intellektuellen nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart. Ein guter Beobachter konnte das auch in anderen Regionen sehen, sie litten Tag und Nacht an Wahrnehmungsschwierigkeiten, und ihnen fehlte zumeist jeglicher Wirklichkeitssinn. Denn Opium, regelmäßig genossen, wirkt aufputschend und zugleich lähmend. In Polen war alles dann noch etwas anders. Herling zitiert mit Ironie Rousseau, das Verhältnis der Polen zu den Russen bedenkend: „Man hat euch verschluckt, bleibt unverdaulich, das ist eure einzige Rettung.“

Dieses Tagebuch bei Nacht geschrieben (Nacht gilt hier als Metapher und ist mehrfach deutbar) ist eine Chronik des Lesens, des Denkens und des Erinnerns. Gustaw Herling trifft nach Jahren den polnischen Autor Iwaszkiewicz wieder, der ihn freundlich umarmen will, weil er ganz verdrängt und vergessen hatte, daß er einst gegenüber Herling heftig als Verleumder aufgetreten war. Es sind immer Brüche, Schattenseiten, Grenzen, die im Tagebuch festgehalten werden. Faschismus, Stalinismus - Wunden im Leben der Völker und vieler einzelner, die diese Erinnerungen nicht loslassen. Barbaren, vor denen sich Herling fürchtet. Sie kommen aus Europa, und Europa gibt immer wieder Anlaß zu heiklen Fragen. 1995 in Amalfi sieht er ganz plötzlich wieder Befürchtungen wachsen, ahnt zukünftige Katastrophen. Neue Barbaren „in einem morschen, ängstlich zitternden Europa, das jedes Schamgefühl verloren hat“.

Betrachtungen über den Menschen in Extremsituationen, Bemerkungen über Bild- und Baukunst, Nachdenken über Proust und Kafka, Herling ist vielseitig. Und ausgelöst wird die jeweilige Tagebuchnotiz nicht durch ein Erlebnis vom Vortage, sondern durch einen Besuch, durch ein Buch, durch eine Erinnerung an ein Buch. Hier schreibt ein behutsamer Ironiker, der weiß, daß die Video-Zivilisation alles zur Schau stellen muß, Canetti „fleischlose Notizhefte“ publizierte, jeder für sich dennoch nicht umhinkommt, „Anzeichen des Älterwerdens“ zu bemerken. Er bietet eine lange Liste, ihn quält aber zuerst die Frage, ob zu alledem auch die „wachsende Desorientierung“ gehört, „oder ob sich herausstellt, daß sich die von der Leine gelassene Geschichte obendrein die Tollwut geholt hat“.

Es gibt in diesem Tagebuch auch einen sehr lebendigen Gang mit Herling durch die Stadt Parma, ein eindrucksvolles Innehalten vor Caravaggios Bildern in einer Kirche in Rom, ein liebevolles Loblied auf Vincent van Gogh. Nachdem er von ihm eine größere Ausstellung in Rom gesehen hat, weiß Herling, „daß er der größte Maler der Moderne war. Seine Größe ist nicht nach technischen oder formalen Kriterien zu bestimmen. Ich bewundere Künstler, für die Kunst der unentwegte Versuch ist, an das andere Ufer zu kommen. Fest in der Wirklichkeit und in der Natur verankert, reißen sie sich eigensinnig los zu einem Erahnten, Unbekannten.“

Kenntnisreichtum, Erlebnisfähigkeit und ein kritischer poetischer Blick, das sind Vorzüge von Gustaw Herling. Ein Autor, der Fragen stellt und sie, seinem eigenen Vermögen nach, beantwortet. In einer guten Antwort keimt immer schon die nächste Frage. Dennoch bleibt vieles offen: Was nach einem großen politischen Zusammenbruch kommt, ist anhaltend ungewiß, das Gesicht der Barbaren, dem Tagebuchschreiber zeitlebens nah und dennoch fern, ist nicht allein durch Sprache aus der Welt zu vertreiben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite