Eine Rezension von Gisela Reller

Bewußte Suche nach dem Schiefen?

Anatoli Gawrilow: Zum Besuch von N.
Geschichten aus der russischen Provinz.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 220 S.

Der Untertitel läßt an Puschkin denken, der sich einst in die sogenannte russische Provinz zurückzog, oder aber an die berühmt gewordene russische Dorfprosa der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Hier aber steht russische Provinz für das Einerlei des Alltags von Menschen aus der Provinz.

Der Eindruck dieses alltäglichen Einerleis wird nicht nur durch das Lebensgefühl der handelnden Personen vermittelt, sondern in den Geschichten wird das Alltagseinerlei auch durch die immerwährende Wiederholung von Wörtern, Satzfetzen, ganzen Sätzen, manchmal sogar ganzen Absätzen stilistisch unterstrichen. Einerseits sollen wohl die immer wiederkehrenden alltäglichen Verrichtungen des einfachen Menschen gegeißelt werden, andererseits soll wohl dadurch auch die Sinnlosigkeit des (Provinz-)Lebens zum Ausdruck kommen. Aber warum ist es eigentlich sinnlos, Tag für Tag den Garten zu gießen? Hitze, Staub, Fliegen ... Täglich auf den Markt zu gehen, um die frisch gelegten Eier zu verkaufen? Hitze, Staub, Fliegen ... Mit der Gartennachbarin über den Zaun zu plaudern, und sei es auch über „nichts“. Hitze, Staub, Fliegen ... Solche wörtlichen Wiederholungen in den Geschichten sind immer stilistisch geschickt eingesetzt, nie aufdringlich, nie an unpassender Stelle. Überhaupt: Geschichten? Es ist wohl eher Miniaturprosa, Skizzen trifft es vielleicht am besten. In ihnen gibt es keine kunstvoll verschachtelten Sätze, sondern einen sauberen, lakonischen Stil. Doch wer weiß, wie schwer das Einfache zu machen ist, ahnt, wie sehr der Autor an diesem Stil feilt. „Es sind Texte“, schreibt denn auch die Übersetzerin in ihrem Nachwort, „die in einem langwierigen Prozeß entstanden, immer wieder umgearbeitet, komprimiert worden sind.“

Gawrilow, 1946 in Mariupol geboren, ist also selbst aus der Provinz, aus der ukrainischen Provinz. Nach vielen beruflichen Irrwegen schließt er 1978 das Gorki-Literatur-Institut ab. Heute lebt er in Wladimir, in der russischen Provinz nordöstlich von Moskau, wo er für seinen Lebensunterhalt als Telegrammbote arbeitet, und, wie es in einer autobiographischen Notiz heißt, „in seinem Garten Gurken und Kartoffeln zieht und versucht, noch etwas ,Nützliches‘ zu tun; er träumt davon, einen Roman zu schreiben ...“

Gawrilows Texte gehören laut Literaturkritik zur sogenannten „Anderen Literatur“. Man bezeichnet sie als „pechschwarz melancholisch“ bis „ungereimt witzig“. Gawrilow selbst läßt einen Freund in einer „Geschichte“ sagen: „Ewig ist bei dir etwas schief.“ Schief? Ich finde Gawrilows Texte realistisch. Auch im wirklichen Leben ist ja manches „schief“...

Obwohl Gawrilows Themenkreis recht schmal ist und nichts Spektakuläres hat, findet man seinen Namen inzwischen in allen angesehenen russischen Literaturzeitschriften. Mich wundert nicht, daß sich die sogenannten einfachen Menschen von Gawrilows „Tristess-Prosa“ nicht abgestoßen, sondern angesprochen fühlen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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