Eine Rezension von Dorothea Körner

Als Jude unbehaust

Aharon Appelfeld: Der eiserne Pfad
Roman.
Aus dem Hebräischen von Stefan Siebers.
Alexander Fest Verlag, Berlin 1999, 207 S.

Dieser Roman handelt von einem entwurzelten Einzelgänger, dessen Leben sich in Zügen, auf Bahnhöfen und in mehr oder weniger freundlichen Gasthöfen und Pensionen abspielt. „Heute steige ich in die Eisenbahn wie ein Mann, der heimkehrt ... Ein geheizter Speisewagen ist besser als jedes Hotelzimmer. In Hotels herrscht eine Atmosphäre von Melancholie, von Verzweiflung; Zugfahrten hingegen versetzten mich mit allen meinen Sinnen in einen Rausch.“ Die Selbstverständlichkeit, mit der von einer absurden Lebenssituation berichtet wird, der lakonische Ton, in dem der Ich-Erzähler von dem Netz der Jahr für Jahr gleichen Stationen seiner Reise erzählt, von den Zufluchtsorten für seine Anfälle von Melancholie und die Begegnungen mit einzelnen Personen, die ihm das Gefühl von Zuhausesein - oder auch von Ablehnung - geben, erinnert an Kafka. Gegenstand des Romans sind die in Jahrzehnten eingeübten seelischen Überlebensstrategien eines 55jährigen Juden aus der Bukowina, der als Kind bzw. Halbwüchsiger das KZ überstand, dessen Eltern im gleichen Lager erschossen wurden und der mit seiner Unbehaustheit, seinen Depressionen und seiner Angst leben muß.

Die jährliche Route führt ihn von Neapel nach Norden, durch mehr oder weniger entlegene Bergdörfer Österreichs, Hochburgen eines latenten, schwelenden Antisemitismus, in denen er seine jüdische Identität einzelnen, ausgesuchten Bekannten anvertraut und dabei auch auf letzte, anonyme Nachkommen von Juden stößt. Jiddisch wird zum Geheimcode, mit dem man sich zu erkennen gibt, der Besitz einer Mesusa oder eines Kiddusch-Bechers, das Vermächtnis jüdischer Vorfahren an ihre getauften oder in Mischehen geborenen Nachkommen zum Freundschafts- und Vertrauensbeweis. Aharon Appelfeld schildert eine gespenstische Gesellschaft, in der schlichte Eisenbahner und Bauern ebenso wie ehemalige SS-Sturmbannführer sich enthusiastisch ihrer Kriegserlebnisse erinnern und in der Überzeugung leben, sie hätten ihre hohe historische Mission der Judenausrottung erfüllt. In dieser Gegend spürt Erwin Siegelbaum Jahr für Jahr auf den ländlichen Märkten die kulturellen Zeugen ehemals jüdischen Lebens auf - darunter Raritäten wie hebräische oder aramäische Gebetbücher aus dem 13. oder 16. Jahrhundert - und verkauft sie an jüdische Sammler.

Neben der österreichisch-jüdischen Beziehung handelt der Roman auch von einem innerjüdischen Konflikt, der Entfremdung der jüdischen Jugend Osteuropas in der Vorkriegszeit von ihren religiösen Wurzeln. „Die kommunistischen Kommissare in der Gegend übten eine große Faszination auf die Jugendlichen aus und lockten sie in Scharen aus ihren Elternhäusern. Sie brachten sie in weit entfernte Schulungslager. Die jungen Leute, die sich hervortaten, und das waren viele, wurden in die Sowjetunion geschickt ... Selbst die Interventionen des greisen Rabbiners blieben erfolglos. Sie erlagen dem Zauber, sie entflohen und kehrten nie mehr nach Hause zurück“, erinnert sich Erwin Siegelbaum. Auch seine Eltern waren glühende Kommunisten, sein Vater führender Parteiorganisator in der Bukowina und Inspirator zahlreicher Streiks und Terroranschläge, darunter auch auf jüdische Unternehmen. Als Sprecher und Vertrauter der Ruthenen war es sein Ziel, diese unterprivilegierte Volksgruppe von Ausbeutung zu befreien, was ihm diese allerdings wenig dankte. Als die Deutschen kamen, versagten die Ruthenen dem in der Illegalität Lebenden ihre Hilfe, und in den Lagern prügelten sie zusammen mit den Nazis auf alle Juden ein. Auch jüdische Mitgefangene, gegen die sein Vater einst gekämpft hatte, zeigten ihm im KZ ihren Haß und ihre Verachtung, konnten ihn jedoch nicht von seinem Glauben an die Menschen abbringen.

Erwin Siegelbaum trifft sich am 1. Mai eines jeden Jahres mit Jugendfreunden seiner Eltern, jüdischen kommunistischen Funktionären aus dem Osten, die - wenn auch auf verlorenem Posten - ihren Idealen treu geblieben sind. „In Salzstein tun sich die Tore der Erinnerung an meine Eltern auf, ungehindert trete ich ein in die Parteizentralen und -büros, vor allem aber in die Gefängnisse, in denen die Genossen ihren Glauben weiter festigten und lernten, sich mit Leib und Seele der gemeinsamen Sache hinzugeben“, kommentiert er diese Treffen. Einmal erklärt ihm ein väterlicher Freund, der jüdische Kommunismus sei der wahre Kommunismus gewesen, die jüdischen Genossen hätten für das gemeinsame Ziel alles geopfert. Auch dieser ehemalige Funktionär beginnt jedoch wieder, sich auf seine Wurzeln zu besinnen und mit Bewunderung die alten jüdischen Schriften zu studieren, die Erwin Siegelbaum für ihn beschafft.

Der Roman beschreibt den Zyklus einer Jahres-Reise, er beginnt am 27. März in Wirblbahn, wo der Held mit 15 Jahren befreit wurde, und endet im Spätherbst des gleichen Jahres ebenfalls in Wirblbahn. Der Ich-Erzähler schildert seine Erlebnisse und Erinnerungen auf den verschiedenen Stationen dieser Reise. Es ist ein Jahr des Abschieds, einige vertraute Freunde sterben, eine Geliebte ist in ihre polnische Heimat zurückgekehrt, manche Juden wollen nach Israel auswandern. Erwin Siegelbaum hat den Mörder seiner Eltern gefunden, aber ihm bleibt ein unbefriedigendes Gefühl. „Wie in all den endlos langen, überdeutlichen Alpträumen hatte ich das Meer der Dunkelheit vor Augen und verstand, daß meine Taten weder hingebungsvoll noch schön gewesen waren. Ich hatte stets unzulänglich und unter Zwang gehandelt, und immer zu spät.“

Der Autor Aharon Appelfeld, 1932 in Czernowitz in der Bukowina geboren und seit 1946 in Israel lebend, hat für dieses Buch 1999 den „National Jewish Book Award“ erhalten. Da er mit acht Jahren mit ansehen mußte, wie die Nazis seine Mutter erschossen, und als Kind selbst - zusammen mit seinem Vater - im KZ inhaftiert war, aus dem er schließlich fliehen konnte - er schloß sich als Küchenjunge der Roten Armee an -, sind vermutlich autobiographische Erfahrungen in diesen Roman eingeflossen. Die seelischen Auswirkungen so fundamental erlebter Gleichgültigkeit und Frivolität sind für einen Außenstehenden im Grunde nicht nachvollziehbar. Aharon Appelfelds Andeutungen von Angst, Alpträumen, Aggressionen und Apathie - aktiviert und gesteigert durch ein antisemitisches Klima, das für einen Nicht-Österreich-Kenner ebenfalls nur schwer vorstellbar ist - können daher vom Leser nur so behutsam, wie sie erzählt sind, zur Kenntnis genommen werden. Eine gewisse Hilflosigkeit der Rezensentin bleibt. Die Bedeutung des Romans ist wohl nur von den Betroffenen selbst in vollem Umfang einzuschätzen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite