Eine Rezension von Bernd Heimberger

Lenin lernen

Robert Service: Wer war Lenin wirklich?
Aus dem Englischen von Holger Fliessbach.
Verlag C. H. Beck, München 2000, 680 S.

Hélène Carrère d'Encausse: Lenin
Aus dem Französischen von Enrico Heinemann.
Piper Verlag, München 2000, 539 S.

Lenin, Lenin und nochmals Lenin! Kann man von dem Mann noch was lernen? Außer, daß kein gegründetes Reich ein ewiges Reich ist? Lenins Sowjetreich, die irdische Alternative zum himmlischen Paradies, ist tot. Lenin (1870-1924) lebt! Auch Anno 2000. Obwohl kein Lenin-Jahr im Kalender angezeigt ist. Vom Batman-Mantel der Geschichte befreit, muß der kleingewachsene Russe nicht mehr den Gottvater einer Sowjetunion und das Superhirn des internationalen Proletariats spielen. Bleiben darf nun das Bild eines Besessenen, der in zehn Tagen die Welt mehr erschütterte, als er sie, letztendlich, verändern konnte. Unstrittig ist, Lenin war einer der herausragendsten Menschen seiner Generation, der die Geschichte seiner Generation global bestimmte, ohne auf Dauer globale Geschichte zu bestimmen!? Der Bestimmer epochaler Geschichte ist durch die epochale Geschichtsbestimmung von 1989 zum Relikt der Historienschreibung geworden. Unbeschwerter ist nun die Frage zu stellen: Ist Lenin ein Großer der Geschichte gewesen oder eine tragische Größe, die das Opfer einer selbst eingeleiteten großen Tragödie der Geschichte wurde?

Lenin war in der Sowjetunion ein Heiliger, der im Weihrauchnebel der Parteipropaganda verschwand. Er war ein Eingesperrter, der in den verriegelten und verrammelten Parteiarchiven versteckt wurde. Erst seit in Moskau Türen und Tore der Archive entriegelt wurden, läßt sich aus dem Staub der Akten hervorholen, was die von Scheinwerfern angestrahlten Bronzebüsten des Staatsgründers verbergen. Licht- und Schattenseiten sind besser zu sehen. Jetzt erst, versprechen Autoren und Verlage, ist dem historischen Lenin näher zu kommen als je zuvor. Zwei mit der russischen Historie bestens vertraute Biographen, die Französin Hélène Carrère d'Encausse und der Brite Robert Service, machen mit dickleibigen Lenin-Biographien erneut auf den russischen Revolutionsführer aufmerksam, ohne den es keine Oktoberrevolution, keine Sowjetunion gegeben hätte.

Service versucht, den Lesern eine Lebensbeschreibung zu bieten, wie das keiner der interpretierenden Lenin-Biographen bisher gelang. Lenin, der Politiker, mit einem persönlichen Gesicht! Ein schöner Ansatz fürs Modellieren. Zudem gut ausgeführt in einer ausführlichen Darstellung der Familiengeschichte der Uljanows - Lenins Taufname. Ungeachtet des ausgewogenen Ansatzes erklärt der Verfasser kategorisch, daß die Figur der Zeitgeschichte „eine wandelnde Zeitbombe“ war. Damit ist der Charakter eines Zerstörers charakterisiert, dem so recht die konstruktive Rolle des Schöpfers der UdSSR kaum mehr zu glauben ist. Dieser Widerspruch des Buches, sofern er einer ist, stellt die sachliche Solidarität der Schrift von Service kaum in Zweifel. Der Autor macht Lenin nicht zum Fallbeispiel der Psychiatrie oder zum Kriminalfall der Historie. Für Richard Service „ein politischer Krieger“, hat der Autor die Lebens-Kriegs-Geschichte Lenins verfaßt. Da muß man sich auf einiges gefaßt machen, um vielleicht verblüfft festzustellen, wie verstehend-verständnisvoll vor allem die Kapitel zur Privat-Familien-Person geschrieben sind. Ohne in fragwürdiges Menscheln zu verfallen, hat ein Mensch von einem Menschen gesprochen. Das kann nicht langweilen. Mehr als einmal werden einem die Haare zu Berge stehen. Es ist reichlich Erschütterndes in der Lebensgeschichte des Mannes, der sich Lenin nannte - das erfolgreichste seiner über hundert Pseudonyme.

Die Französin d'Encausse ist nicht Willens gewesen, wesentlichen privaten, familiären Lebensbedingungen zuviel Raum zu lassen.

Gleich Service, ist die tatsächliche Chronik des Lebens verbindlich für die Biographie. Schneller als der britische Kollege, kommt die Französin auf den Lenin zu sprechen, der eine Person der Weltgeschichte ist. Kenntnisse voraussetzend, erklärt sie knapper, was Legende und was Wirklichkeit war in der Biographie. Zum Beispiel, daß Lenins Kindheit keine proletarische war, sondern die privilegierte, die in den Häusern des begüterten Bildungsbürgertums üblich war. Der Weg vom Bürger zum Berufsrevolutionär, so die Biographin, war ein Weg, der sich im „Strudel des Wandels“ vollzog. In den war Rußland bereits vor der Jahrhundertwende geraten, bevor es sich in die desolate Revolution von 1905 flüchtete. D'Encausse ist immer voll der besten Absicht, die Geschichte Lenins „vorurteilslos vor dem historischen Hintergrund des 20. Jahrhunderts“ zu betrachten. Im Gegensatz zu Service ist sie eher zur konstruktiv-kritischen Annäherung an die konstruktive Denk- und Willenskraft Lenins bereit. Nüchterner, komprimierter im Beachten und Beurteilen, hat die Biographin mehr Fragen an die Jahrhundertperson, als sie Antworten zu ihr geben kann, die unumstößlich sind. Annäherung ist für die Autorin nicht identisch mit vermeintlicher Nähe zum Privaten. Soviel Eindeutigkeit sich d'Encausse im Urteilen auch leistet, sie tritt nie mit der Selbstgewißheit auf, die Biographie aller Biographien geschrieben zu haben. Ihr Lenin-Buch nennt sie „einen Beitrag, ... die Betrachtung Lenins von den Fesseln der ideologischen Leidenschaften“ zu befreien. Bravo! Das erhält die Bereitschaft, auf weitere, erweiternde Beiträge zu warten. Die nächste Lenin-Biographie wird sicher schon geschrieben. Ist Robert Services Buch ein Beitrag zu dem Buch der französischen Wissenschaftlerin, so ist ihr Buch einer zu dem des Briten. Beide werden dem Leninschen Prinzip gerecht, daß „Lernen, lernen und nochmals lernen“ die Chance ist, Lenin zu lernen. Auch die nächste Lenin-Biographie wird dafür Gelegenheit bieten. Lenin und noch lange kein Ende!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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