Eine Rezension von Jürgen Harder

Nietzsche - ein Faschist?

Bernhard H. F. Taureck: Nietzsche und der Faschismus
Ein Politikum.
Reclam Verlag Leipzig, Leipzig 2000, 304 S.

Kein Zweifel: Nietzsche war einer der größten Mythenzerstörer. Und er war zugleich einer der eindrucksvollsten Schöpfer von Legenden. Das hatte freilich zur Folge: Dieser wirkungsmächtige Philosoph und einflußreiche Kritiker war auch selbst immer wieder bevorzugtes Objekt der Begierde. Der Begierde nach Mythenzertrümmerung. Und - nach Legendenbildung. Wie sehr dieses Geschäft auch heute noch blüht - davon gab uns das Jahr des 100. Todestages von Friedrich Nietzsche reichlich Kunde. Mit einer enormen Publikationsflut im allgemeinen. Mit einer machtvollen Bücherwelle im besonderen. Kein Wunder: Unter den Legendenbildnern nutzten auch die Weißwäscher die Gunst der Stunde. Und so konnten wir - auffällig häufig - von Nietzsche als von einem „glühenden Anti-Antisemiten“ lesen; und davon, daß diese sympathische Schwäche den deutschen Philosophen doch gänzlich unbrauchbar gemacht habe - für die Nazis und ihren Nationalsozialismus. In seinem Buch Nietzsche und der Faschismus beteiligt sich Taureck in keiner Weise an den modernen bzw. postmodernen Märchenerzählungen über Nietzsche. Der Autor pflegt „das Pathos der Sachlichkeit“. Er brilliert gleichsam mit einem Hymnus auf das rationale Argument. Und so legt er ein fundiertes Buch vor. Ein wertvolles und hilfreiches Buch. Und - auch ein vergnügliches Buch. Kurz: Ein Buch zur rechten Zeit! Aber - der Reihe nach.

Was den Titel zum fundierten Buch macht, ist zunächst des Autors umfassende Quellenkenntnis, sind die eindrucksvollen Fakten - und Materialfülle. Das solide Fundament bilden schließlich zahlreiche Einzelstudien Taurecks zu Nietzsche. Der Verfasser packt den Stier sogleich bei den Hörnern: „War Nietzsche ein philosophischer Wegbereiter des Faschismus?“ So lautet der erste Satz der Studie. Der Umstand aber, daß die Antwort eben nicht auf der flachen Hand liegt, verführt Taureck mitnichten zur ebenso flotten wie angesagten Beteiligung an den zahlreichen Nietzsche-Reinwaschungen unserer Tage. Im Gegenteil. Gerade die Schwierigkeit, eine wirklich angemessene und wissenschaftlich überzeugende Antwort auf jene Frage zu finden, war für Taureck wohl die stärkste Triebfederfür seine Untersuchung. Und es lag in der Natur der Sache, daß er sich - und seinen Lesern - einen verschlungenen analytischen Weg bahnen mußte durch ein unvergleichlich sperriges Dickicht aus schreienden Widersprüchen. Aus Absurditäten ohne Ende. Aus sich gegenseitig immer wieder gänzlich ausschließenden Aussagen und Konzepten. Taureck bringt uns - kritisch - einen Diagnostiker und Visionär nahe, in dessen Brust zwei wesensverschiedene Seelen wohnen: Machiavelli und Montaigne. Ständig gewinnt der Leser faszinierende Einblicke in reale Abgründe, in tatsächliche Zerrissenheiten. In die von der Verzweiflung eines großen Denkers angetriebene Suche nach Lösungen. Gesellschaftspolitische Lösungsversuche, die ihm von einem fieberhaften Krisenbewußtsein diktiert wurden. Die Textstellen sind Legion, die belegen: Nietzsches Zukunftsvisionen von den neuen „Herren der Erde“ und vom „Übermenschen“ entsprangen einer Furcht vor dem „Sklavenaufstand“ der Moderne. Sie waren Reaktion auf und Gegenkonzeption zu revolutionären Bewegungen, sozialen Reformen und vielfältigen Fortschritten des 19. Jahrhunderts. Nietzsche reagierte mit Konzepten, die - teilweise - verblüffende produktive Ansätze verraten. Die - andererseits - auch die inhumansten Monstrositäten offenbaren. So schlägt Taureck uns einen Pfad durch Nietzsches „schillerndes Denken“, gibt uns unglaubliche Kostproben vom Pazifisten Nietzsche - ebenso von einem Nietzsche, der den „Protofaschismus“ schlechthin verkörpert. Und wir erfahren, daß Nietzsches Rede von der „verfluchten Antisemiterei“ in Deutschland sehr schnell an Gewicht verliert: angesichts des ausgeprägten Anti-Judaismus des Philosophen. Für Nietzsche ist alle bisherige Geschichte eine Geschichte des Kampfes „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom“. Und in diesem Kampf nimmt Nietzsche so eindeutig wie vehement Partei gegen Judäa: Weil das Judentum für Moral stehe. Und diese Moral hatte Nietzsche als Todfeind des Lebens ausgemacht. Gegen diese angeblich lebensfeindliche Moral stimmte er sein Hohelied auf die „blonde Bestie“ an.

Der Leser, der den vielen Schritten des Autors auf dessen weitverzweigten geistigen, kulturellen, politischen und historischen Wegen gefolgt ist, wird sich Taurecks Untersuchungsergebnissen schwerlich verschließen können. Der Verfasser hat aus Nietzsches Werken, aus seinen Texten und Briefen im wesentlichen a c h t  E l e m e n t e herauskristallisiert, die eine „Öffnung Nietzsches zum Faschismus“ belegen:

-die Forderung nach Vernichtungskriegen
-die politische Rassenontologie einschließlich ihrer Bedrohungstheorie und Radikal-
  lösungen, d. h. der Forderung nach Massenausrottungen
-Diagnose von bzw. Forderung nach Einheit von Vollkommenheit und Verbrechertum
-die überpolitische Einheit von Macht- und Zweckstaat, die die Züge platonistischer
  Politästhetik, sakralisierter Politik und die Einheit von Staatsmann und Künstler enthält
-die Theorie der Bedrohung durch einen egalitären Totalitarismus, dem zuvorzukommen
  sei
-die Aufhebung der Gattungsemanzipation des Menschen in einer über die Aufklärung
  aufgeklärten Aufklärung als politischer Kastenordnung
-die Sprengung der nationalen Grenzen für eine neue politische Kasten- und Rangordnung
  durch Züchtung einer gesamteuropäischen oder globalen Herrenkaste
-das Bestreben, Macht und Gewalt an die Stelle der überlieferten Vernunft zu setzen.

So klar diese Aussagen, so vorsichtig ihr Verfasser. Weil sich diese Öffnungen Nietzsches zum Faschismus nicht in ein eindeutiges Verhältnis von Theorie und Praxis, Denken und Tat, Konzeption und Ausführung bringen lassen, greift Taureck zu einer Metapher, um seine Forschungsergebnisse vor allzu simpler Interpretation zu schützen: „Aus der antiken Philosophie steht ein Bild bereit, das zwei auseinanderliegende Bewegungen als zusammengehörige faßt: Es ist die Kreisbewegung der Schraube, deren Gewinde sich zugleich geradlinig in Holz einbohrt. Bildet Nietzsche den rotierenden Schraubenkopf, so ist der Faschismus das geradlinig sich einfressende Gewinde. Es kann bisher nicht jenseits aller Zweifel entschieden werden, ob jener Schraubenkopf mit diesem Gewinde verlötet ist. Dennoch mag es hinreichen, gezeigt zu haben, daß überhaupt eine Beziehung von Schraubenkopf und Gewinde für die Beziehung Nietzsches zum Faschismus relevant und plausibel ist. Mit einigem Recht kann man von einem Protofaschismus Nietzsches sprechen.“

Keine Frage: Ein wertvolles Buch. Weil es den Wert von sachlicher Analyse offenbart. Ein hilfreiches Buch. Denn was könnte hilfreicher für den an der Sache interessierten Leser sein als eine sachlich argumentative und höchst differenzierte Aufhellung eines der schillerndsten Phänomene der deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte - und speziell der Geschichte (anti)moderner politischer Konzeptionen, Visionen und Ideen! Zweifellos hat Taureck auch ein vergnügliches Buch vorgelegt. Vergnüglich für alle, die immer noch und immer wieder Spaß und Freude empfinden, wenn der klare Gedanke über geistig diffuse Beeinflussungsmanöver triumphiert. Der Autor kultiviert eine Methode, in welcher auch Nietzsche so außergewöhnlich zu glänzen verstand: die unbestechliche rationale Analyse. Ein Vernunftsprinzip, das „Rettung“ verheißt - angesichts eines Phänomens wie Nietzsche. Rettung gegen die übermächtige Suggestion und die schillernde Faszination dieses Geistes. Rettung - um in dem unvergleichlich chaotischen geistigen Steinbruch, der das Werk Nietzsches kennzeichnet, nicht sogleich die Orientierung zu verlieren. Schon Tucholsky wußte: „Sage mir, was du brauchst, und ich will dir dafür ein Nietzsche-Zitat besorgen.“ Nietzsche als Berufungsinstanz - für alles und jeden! - scheint unerschöpflich. Indes: Taurecks Buch ist von außerordentlichem Nutzen wider den uferlosen Relativismus im Umgang mit Nietzsche. Zum geistig Vergnüglichsten gehört, wie sich der Autor - durchgängig - zu den zahllosen Nietzsche-Entlastungen positioniert. Zu den „Reinwaschungen“ auch und gerade der intelligentesten Art. So lassen sich die sauber begründeten Seitenhiebe gegen Autoritäten wie Adorno und Heidegger und viele, viele andere ebenso genießen wie die scharfsinnigen Aufmischungen der modernen und postmodernen Nietzsche-Rezeption in Frankreich. Dieser „französische Nietzscheanismus“ ist verbunden mit so klangvollen Namen wie: Foucault, Derrida und vor allem Deleuze/Guattari. Zu den Vorläufern zählen insbesondere Camus, Blanchot und Bataille. Dieser auch als „Links-Nietzscheanismus“ geläufigen philosophischen Theorie verdankt die Fachwelt immerhin ein Bild von Nietzsche als eines „Antifaschisten“ der apartesten Sonderklasse. Nie geht es Taureck darum, Nietzsche zu belasten. Seine brillanten Analysen zeichnen sich einfach nur dadurch aus, daß sie Nietzsche im höchsten Maße gerecht werden. Souverän räumt der Autor auch mit einem besonders zählebigen Mythos auf. Mit der Legende, daß jede Verbindung Nietzsches mit dem Faschismus einzig und allein das Ergebnis einer nachträglichen Textmanipulation sei. Des perfiden Arrangements von Nietzsche-Nachlaß-Texten durch Peter Gast und Nietzsches Schwester: der Hitler-Verehrerin Elisabeth Förster-Nietzsche. Mit dem manipulativen Ergebnis: Der Wille zur Macht. Mit der ebenfalls im nachhinein vorgenommenen Stilisierung dieser Textmasse zum philosophischen Hauptwerk Nietzsches. Taureck zeigt, daß es keineswegs erst einer solchen Manipulation bedurfte, um Nietzsche zum Faschismus hin zu öffnen. Höchstselbst hatte Nietzsche nämlich bereits in Jenseits von Gut und Böse seine „protofaschistischen Politikmodelle“ zusammengefaßt.

Auch Taureck weiß: Die Stimme Montaignes in Nietzsche verstummte niemals gänzlich. Eine solche textgestützte Würdigung des Philosophen reicht freilich, so der Verfasser, niemals aus für eine - immer wieder angestrebte - Entflechtung Nietzsches von dem, was ihn nun einmal zum Faschismus öffnete und öffnet. Letztes Fazit: Es gibt erstaunlich viele Nietzsche-Verehrer, die der Demokratie nahezu alles verdanken, was sie sind. Und diese Verehrer wissen durchaus, Nietzsches Haß auf den Sozialismus gebührend zu würdigen - ohne daß sich ihre Bewunderung für den Philosophen von dessen abgrundtiefer Verachtung für alles Demokratische auch nur im mindesten unangenehm berührt zeigt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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