Eine Rezension von Eberhard Fromm

Dichter seines Lebens

Rüdiger Safranski: Nietzsche
Biographie seines Denkens.
Carl Hanser, München 2000, 399 S.

Im vergangenen Jahr erschienen anläßlich des 100. Todestages des Philosophen Friedrich Nietzsche viele neue Arbeiten über einen der meistgelesenen deutschen Denker. Angesichts der Flut von Büchern über Nietzsche muß man sich allerdings fragen, was denn da noch Neues kommen kann. Haben nicht Simmel und Jaspers, Foucault und Heidegger, Montinari und Bertram, Thomas Mann und Hermann Hesse, Odujew und Lukacs und viele andere Anhänger und Kritiker Nietzsches bereits alles gesagt? Kann man den unzähligen guten und weniger guten Biographien von Förster-Nietzsche bis Janz, von Schlechta bis Ross noch etwas hinzufügen?

Wenn man das Buch von Rüdiger Safranski (1945) aus der Hand legt, kann man diese Fragen mit einem klaren Ja beantworten. Der Autor hat bereits in Arbeiten zu E. T. A. Hoffmann, Arthur Schopenhauer und Martin Heidegger seine Fähigkeit gezeigt, selbst derart vielbeschriebenen Gestalten neue Seiten abzugewinnen. In dieser Biographie seines Denkens gelingt es ihm, das Philosophieren Nietzsches in seiner Bewegung zu erfassen und so darzustellen, daß der Leser ihm folgen kann und auch willig folgt. Safranski hält sich streng an die Chronologie des Lebens seines Denkers, die am Ende des Buches mit den wichtigsten Lebensdaten aufgeführt ist. Er verfolgt das Werden, Sich-Verändern, das Mit-sich-in-Widerspruch-Geraten, die neuen Sichten der philosophischen Ideen Nietzsches in ihren tatsächlichen zeitlichen Abläufen. Er vermeidet es also, von einem bestimmten Aspekt her, von einer vorgefaßten Position aus, von einer zustimmenden oder ablehnenden Grundhaltung her an das Werk des Denkers heranzugehen.

Das macht es manchmal nicht leicht, ihm zu folgen, vor allem dort, wo er auf die Widersprüche, Wendungen und Kehren im Denken Nietzsches eingeht. Aber ebendieses Herangehen erhöht die Glaubwürdigkeit der Aussagen Safranskis, ist man doch in der Sekundärliteratur zu Friedrich Nietzsche an die wildesten Spekulationen gewöhnt.

Gearbeitet wird mit einer Kombination von Nietzsche-Texten und Erklärungen, Ausdeutungen und auch umfänglicheren Abhandlungen zu einzelnen Fragen durch den Autor. Besonders ausführlich und differenziert werden die zentralen Punkte im Werden der Ideenwelt Nietzsches behandelt. Dazu gehört die Einsicht von den metaphysischen Lebensmächten des Apollinischen und Dionysischen, womit Nietzsche „den alles entscheidenden Schritt in seiner intellektuellen Biographie getan“ habe, denn damit meinte er, einen Schlüssel gefunden zu haben, um sich das „Betriebsgeheimnis der Kulturen, ihrer Geschichte und Zukunft“ erschließen zu können. Nicht weniger gründlich wird die Wendung zur Kritik der Metaphysik behandelt, in der es Nietzsche nach eigener Aussage darum geht, die „Unvernunft in den menschlichen Dingen ans Licht zu bringen“, und die ihn zu der Feststellung führt: „Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muß.“

Natürlich geht Safranski auch breit auf die vielbeschriebene Inspiration Nietzsches 1881 am Surlej-Felsen in Sils-Maria ein. Hier ist der Platz, um die Lehre von der ewigen Wiederkunft zu erläutern. Und hier wird auch das ambivalente Bild vom Übermenschen gezeichnet, wie Safranski es bei Nietzsche vorfindet: „Der Übermensch repräsentiert einen höheren biologischen Typus, er könnte das Produkt einer zielstrebigen Züchtung sein; er ist aber auch ein Ideal für jeden, der Macht über sich selbst gewinnen und seine Tugenden pflegen und entfalten will, der schöpferisch ist ...“ Schließlich wird auf den Willen zur Macht eingegangen. Aber keines dieser allbekannten Schwerpunkte im Denken Nietzsches, die sich zu bloßen Schlagworten verselbständigt haben, mit denen man heute für oder gegen Nietzsche streitet, wird von Safranski zur zentralen Leitidee erhoben oder gar zum Schlüssel für die Verknüpfung des Gesamtwerkes von Nietzsche. Dionysos, der Übermensch, die Wiederkehr des Gleichen, der Wille zur Macht erscheinen als Denkschritte Nietzsches in seinem Bemühen, sich selbst und die Welt zu begreifen und auch zu verändern.

Safranski bietet also kein neues Nietzsche-Bild, keine bisher noch nicht entdeckte Interpretation des Philosophen, sondern er hilft dem Leser, den Denkweg Nietzsches nachzuvollziehen. Das macht den großen Gewinn des Buches aus. Denn Nietzsche versteckt sich im Labyrinth seiner Gedanken, „er möchte entdeckt werden, aber auf langen, windungsreichen Wegen“, wobei ihm wohl am wichtigsten ist, daß man eigene Gedanken, das Denken überhaupt entdeckt, denn das „eigene Denken ist die Ariadne, zu der man zurückfinden soll“.

Das letzte (15.) Kapitel widmet sich der Wirkungsgeschichte Nietzsches. Damit wird jene Ebene betreten, die bisher im Buch - und zum Vorteil des Buches - vermieden wurde, nämlich die Ebene der verschiedenen Interpretationen Nietzsches in der Zeit nach seinem Tod. Von der Gesamtkonzeption her bleibt das - durchaus recht informative - Kapitel ein Fremdkörper, denn eine Biographie des Denkens von Friedrich Nietzsche endet dort, wo er aufgehört hat zu denken.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/01 (c) Edition Luisenstadt, 2001
www.berliner-lesezeichen.de

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